„Ich will wissen, warum die Morde und Anschläge nicht verhindert wurden. Ich will wissen, was Polizei und Verfassungsschutz wussten und warum deren Spitzel bis heute geschützt werden. Ich möchte, dass die NSU-Akten den Anwälten übergeben werden […] Solange eine 100%ige Aufklärung nicht wenigstens versucht wurde, kann und werde ich damit nicht abschließen können.“
In Gedenken an:
Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut,
İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter
120 Jahre sollte der Geheimbericht – oft bezeichnet als „NSU-Akten“ – des hessischen Geheimdienstes über die Mordserie des «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU) unter Verschluss bleiben. Nach all den unerfüllten Versprechen der Aufklärung, nach Aktenschredder-Aktionen und dem Auffliegen etlicher V-Personen, die im direkten Umfeld des Kerntrios des NSU platziert waren, sind 120 Jahre Geheimhaltung ein weiterer Vertrauensbruch und Affront gegen die Betroffenen des NSU-Terrors und alle, die sich gegen Rassismus und Neonazismus engagieren. Nach dem Mord an Walter Lübcke wurde die Geheimhaltungsfrist auf 30 Jahre herabgestuft. Doch der Geheimbericht wurde zum Symbol dafür, wie der deutsche Staat mit Betroffenen des Neonaziterrors umgeht. Er steht für das Schweigen ignoranter Behörden, die permanent verharmlosen, vertuschen und teils selbst verstrickt sind in den rechten Terror in Deutschland. Es geht längst darum, was der Bericht heute verkörpert, nicht um seinen konkreten Inhalt.
Fast 135.000 Menschen unterschrieben seit 2019 eine Petition, in der sie die Freigabe der „NSU-Akten“ forderten. Es ist die am häufigsten unterschriebene Petition des Landes Hessen. Der erneute Vertrauensbruch und die Forderung nach Aufklärung wurde auch popkulturell verarbeitet. Der Rapper „Ilhan44“ textet in seinem Song: „Ich muss die NSU-Akten klauen. Merkel du Fresse, mach NSU-Akten auf!“ Auch im Benefiz-Song „Bist du wach?“ von „Azzi Memo“, der den Ermordeten aus Hanau gewidmet ist, wird das Thema aufgegriffen: „Sind Herzen verschlossen wie NSU-Akten.“ Im Folgenden wird der Bericht und die Arbeitsweise des Geheimdienstes analysiert. Dabei werden relevante Informationen aus dem Bericht aufgearbeitet und Lücken gefüllt.
Um eines vorweg zu nehmen: Der Geheimbericht liefert keine Aufklärung und keine Antworten auf die relevanten Fragen rund um die rassistische Terrorserie des NSU. Im Kern ist es nur ein weiteres Zeugnis der desaströsen Arbeitsweise in deutschen Geheimdiensten.
Aktion Konfetti – Vertuschung als Staatsräson
Nachdem sich das Kerntrio des NSU am 4. November 2011 selbst enttarnte, begannen in den Geheimdienstbehörden zügig Vertuschungsaktionen. Allein das „Bundesamt für Verfassungsschutz“ vernichtete am 11. November 2011 etliche Akten von V-Personen, was in der Presse später als „Aktion Konfetti“ bekannt wurde. Schnell wurde klar, dass im Umfeld des NSU zahlreiche sogenannte V-Personen (Spitzel) von Geheimdiensten und Polizeibehörden platziert waren, ohne das dies die rassistische Mordserie verhindert hätte.
Ziel der Sicherheitsbehörden war es nun, relevante Hinweise zu vernichten und damit zu verhindern, dass Staatsgeheimnisse und das gesamte Ausmaß ihrer Fehler bekannt werden: Hat es es doch konkrete Hinweise auf den Aufenthalt und die Taten des NSU-Kerntrios gegeben? Hätte man aus den vorliegenden Informationen nicht sehr viel mehr herauslesen und in Bewegung setzen müssen, die Terrorserie gar verhindern können? Die Aktenvernichtungen führten zu einem der größten Skandale in der Bundesrepublik und erschütterten das Vertrauen Vieler nachhaltig. Insbesondere für Angehörige und betroffene rechter Gewalt wurde die oberste Prämisse der Behörden spürbar, die bis heute heißt: Quellenschutz statt Aufklärung und Opferschutz.
Für die hessischen Behörden wurde es besonders ungemütlich als heraus kam, dass ein Mitarbeiter des hessischen Inlandsgeheimdienstes, der V-Mann-Führer Andreas Temme, am Tatort war, als am 6. April 2006 in Kassel Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde. Zahlreiche Fragen bis hin zu Verschwörungstheorien ranken sich seitdem um eine mögliche Verstrickung hessischer Behörden in die NSU-Mordserie.
Aufräumen im Auftrag des Staates
Im Juni 2012 wies der damalige hessische Innenminister Boris Rhein seine Behörde an, sämtliche Akten auf Hinweise zum NSU und zu rechtsterroristischen Aktivitäten im Land Hessen zu prüfen. Vom 25. Juni bis zum 3. Dezember 2012 durchsuchten 27 Mitarbeitende unter der Leitung von Iris Pilling, damals Abteilungsleiterin des hessischen Geheimdienstes, nach eigenen Angaben über eine Million Blatt Papier aus 3.500 Aktenbänden. Zu prüfen waren sämtliche Akten aus dem Zeitraum vom 1. Januar 1992 bis zum 30. Juni 2012 aus den verschiedenen Aufgabenbereichen des Geheimdienstes wie der „Observation“, der „Auswertung“ und der „Beschaffung“. Zudem wurde eine Liste mit 78 Personen erstellt (bzw. 77, eine Person taucht doppelt auf), die in den Ermittlungen seit der Selbstenttarnung zu den Verbrechen des NSU aufgefallen waren: Dadurch, dass sie Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt direkt unterstützt hatten, oder dadurch, dass sie Kontakte zu UnterstützerInnen des NSU hatten. Auf diese Personen sollte im Besonderen geachtet werden. Mit dem Wissen von heute hat die Liste keine Aussagekraft mehr in Bezug auf die Relevanz der Personen. Detailwissen zu Intensitäten von Beziehungen und Einbindung in die Szene rechtfertigen einen Platz auf der Liste aus heutiger Sicht bei einigen nicht mehr, andere relevante Personen fehlen hingegen. Außerdem liegt der Liste die falsche Annahme zugrunde, der NSU sei zu dritt gewesen und hätte nicht aus einem weit größeren Netzwerk von Personen bestanden.
Konkret umfasste der Auftrag:
„Neben personenbezogenen Kontakten auf Hinweise bezüglich der Existenz des NSU, des Handelns des NSU (inklusive Symbolen) und Solidaritätsaktionen für den NSU zu achten.
Darüber hinaus wurde die Recherche erweitert auf
- allgemeine Hinweise in Bezug auf Strategiepapiere bzw. -aussagen, die einen ‚bewaffneten bzw. einen revolutionären Kampf’ oder ein Handeln aus dem ‚Untergrund’ heraus thematisierten.
- Außerdem sollte auf Kontakte hessischer Gruppierungen oder Personen zu relevanten Gruppierungen, Personen und Szeneobjekten – insbesondere in Thüringen oder in Sachsen – geachtet werden.
- Besonderes Augenmerk sollte ebenso auf Informationen zu Waffenbesitz oder Informationen im Zusammenhang mit Waffen bzw. Sprengstoff gelegt werden.
- Bei Informationen über ungeklärte Straftaten interessierten mögliche Parallelitäten mit den Tatabläufen von Straftaten des Zwickauer Trios.
- Abschließend wurde noch auf Themen (Juden und Fremdenfeindlichkeit sowie Wehrmachtsausstellung) hingewiesen, mit denen sich das NSU-Trio vor seinem Abtauchen beschäftigt hatte.“
Zur Koordination, Qualitätssicherung und Dokumentation der Arbeiten wurde eine Koordinierungsstelle eingesetzt die mit zwei Personen besetzt wurde. Für die Mitarbeitenden wurde sogar spezielle Schulungen abgehalten.
Versuche der Geheimhaltung
Ein Zwischenbericht, den der hessische Inlandsgeheimdienst im Jahr 2013 eingereicht hatte, wurde vom Innenminister wegen Unzulänglichkeiten zurückgewiesen. Der endgültige Abschlussbericht wurde im September 2014 fertig gestellt und seither unter Verschluss gehalten. Es durfte noch nicht einmal bekannt werden, dass es den Bericht gab. Auf Drängen der Linkspartei im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss wurde die Geheimhaltungsstufe des Berichts heruntergesetzt. Erst dadurch wurden die Existenz des Berichtes und die 120-jährige Geheimhaltungsfrist in der Öffentlichkeit bekannt. Einen weiteren Vorstoß lieferten die Journalisten Dirk Laabs und Stefan Aust, die teils erfolgreich auf Akteneinsicht klagten. Von besonderem Interesse war dabei die Rolle des Verfassungsschutz-Mitarbeiters Andreas Temme und seines V-Manns Benjamin Gärtner sowie von Stephan Ernst, der 2019 den nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet hatte.
Im Urteil des hessischen Verwaltungsgerichts heißt es dazu: „Die weiteren Fragen, ob und inwieweit sie möglicherweise in die Morde des NSU – in welcher Weise auch immer – verwickelt gewesen sein könnten sind von ebenso hohem öffentlichen Interesse wie etwaige Unterlassungen oder Verfehlungen des Landesamtes für Verfassungschsschutz oder einzelner seiner Mitarbeiter in diesem Zusammenhang“ (Fehler im Original). Die Geheimhaltungsfrist wurde schließlich auf 30 Jahre reduziert, es besteht jedoch die Möglichkeit den Bericht nach Ablauf der Sperrfrist weiter unter Verschluss zu halten.
Was (nicht) im Geheimbericht steht
Der „Abschlussbericht zur Aktenprüfung im LfV Hessen im Jahr 2012“, wie der Geheimbericht offiziell heißt, besteht aus einem 17-seitigen Bericht, der die Herangehensweise und Umsetzung, Ergebnisse und Schlussfolgerung der Aktenprüfung beschreibt. Angehängt sind diverse Anlagen sowie eine Liste mit den relevanten Treffern in den Akten. Es wurden 950 Hinweise gefunden, die der Koordinierungsstelle übergeben und nach Prüfung in einer Tabelle mit der Beschreibung „Bezüge zu Personen des NSU-Umfeldes sowie Bezüge zur szenetypischen Gewaltorientierung von Rechtsextremisten und Hinweise auf Waffenbezüge (legal oder illegal)“ aufgelistet wurden. Diese Tabelle hat keinen erkennbaren systematischen Aufbau. Die Informationen sind weder chronologisch noch inhaltlich geordnet. Die Tabelle enthält in der veröffentlichten Form enorm viele Schwärzungen, so dass keine Aussage darüber getroffen werden kann, was schlussendlich alles (nicht) im Bericht steht. Zudem ergeben sich Schwierigkeiten, die Informationen einzuordnen. Nahezu die Hälfte der Meldungen in der Tabelle sind gänzlich geschwärzt.
Die massive Unkenntlichmachung wird, ebenso wie die lange Geheimhaltungsfrist, damit begründet, dass durch den Bericht Quellen gefährdet seien sowie die Arbeitsweise des Geheimdienst offengelegt würde. Diese Argumente sind aus Sicht der Behörde zunächst einmal nachvollziehbar, denn keine Sicherheitsbehörde macht von sich aus öffentlich, wie sie konkret arbeitet, wie ihr genauer Wissensstand ist und aus welchen Quellen sie ihr Wissen schöpft. Außerdem wurde den V-Personen zugesichert, dass ihre Identität geschützt wird. Nicht in diesem Sinne nachvollziehbar dagegen ist, warum Informationen, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts bereits öffentlich bekannt waren, nicht im Bericht zu lesen sind. Beispielsweise Erkenntnisse aus offen einsehbaren Profilen in Sozialen Netzwerken oder öffentlich zugänglichen Internetforen, Zeitungen und Zeitschriften. Aktive Neonazis sollten davon ausgehen können, dass sie den Behörden als Neonazis bekannt sind und dass diese auch in der Lage sind, Tageszeitungen und Antifa-Veröffentlichungen zu lesen.
Bei der Durchsicht des Berichts stößt man immer wieder auf das Kernproblem der Arbeitsweise des Inlandsgeheimdienstes: Er baut sein Wissen im Wesentlichen auf Aussagen bezahlter Spitzel auf. So finden sich zahlreiche Meldungen über Schießtrainings, Waffen- und Sprengstoffbeschaffung und auch Bezüge ins Netzwerk des NSU. Doch kaum eine dieser Meldungen wurde auch nachgegangen. Der Geheimdienst sitzt faktisch auf einem Pulverfass an Informationen, aber unternimmt nichts.
Teilweise ist die Behörde überraschend selbstkritisch und stellt im Bericht fest: „In der Auswertung erfolgten häufig weder Nachfragen bei Quellen noch wurde versucht, den Sachverhalt durch ergänzende Informationen anderer Behörden zu verifizieren oder in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und zu bewerten.“ Zusammenfassend stellt man sich selbst das vernichtende Urteil aus: „Interessanten Hinweisen oder Anhaltspunkten wurde zum Zeitpunkt der Datenerhebung sowohl in der Auswertung als auch in der Beschaffung nicht immer konsequent nachgegangen.“ Und obgleich man erkannt hat, dass man eigentlich nicht aussagefähig ist, legt man im selben Bericht in überheblicher Manier fest: „Es fanden sich keine Hinweise auf oder Informationen zu einem terroristischen Verhalten von Rechtsextremisten.“ Den Mitarbeitenden fehlt offensichtlich die Kompetenz, die Informationsbausteine zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen, rechten Terror zu erkennen und dessen Netzwerke zu begreifen.
So offenbart der Geheimbericht die eklatanten Analyse- und Wissensdefizite des hessischen Inlandsgeheimdienstes. Dem Bericht werden im Folgenden Erkenntnisse aus antifaschistischen Archiven und Recherchen entgegengestellt, um das Ausmaß der Unzulänglichkeit deutlich zu machen. Die nachfolgend aufgeführten Personen oder Fälle waren nahezu alle zum Zeitpunkt der Erstellung des Berichts bereits öffentlich bekannt oder Teil von Ermittlungsverfahren.
Die Kritik am Geheimbericht macht sich im Einzelnen an den folgenden Punkten fest:
1. NSU-Komplex
Der Geheimbericht enthält Informationen zu Personen und Gruppen, die im NSU-Komplex eine Rolle spielen. Es zeigt sich allerdings, dass man weder deren Brisanz erkannt noch diese systematisch untersucht hat. Neonazis, die gesondert überprüft werden sollten, wurden kaum auf ihre Strukturen hin analysiert. Organisationen und Netzwerke, denen sie angehörten, wurden offensichtlich für nicht relevant befunden.
• Thorsten Heise, Corryna Görtz und die „Untergrundorganisation Nordhessen“
• Die Kassel-Dortmund-Verbindung: «Oidoxie Streetfighting Crew»
• Andreas Temme: Der V-Mann-Führer am Tatort
• «Blood & Honour Chemnitz» und «Blood & Honour Südhessen»
• Thomas Gerlach und die Hammerskins
• Der «Ku Klux Klan» in Hessen
2. Das Pulverfass
Der Geheimdienst saß auf einem Pulverfass an Informationen über schwerbewaffnete Neonazis in Hessen. Im Geheimbericht sind dennoch etliche Fälle nicht aufgeführt, in denen sich Neonazis auf legalem Weg Schusswaffen beschafften und an diesen ausbildeten. Ihre Zugehörigkeit zu Schützenvereinen, Bundeswehr und Reservisten-Kameradschaften wurde entweder nicht systematisch untersucht oder es wurden diesbezügliche Informationen zurückgehalten oder geschwärzt.
• Neonazis in Schützenvereinen
• Alfred Horst – Mordfantasien eines Schützenmeisters
• Untergrundkonzepte im Forum des «Freien Widerstands Kassel»
• Neonazis in Bundeswehr und Reservisten-Kameradschaften
3. Ungeklärte Fälle
Der Geheimbericht zeigt, dass Behörden sich verweigern, wenn es um Erkennen und Aufklärung neonazistischer Gewalt geht. Der Geheimbericht geht nicht auf versuchte Mordanschläge ein, die in den 2000er Jahren in Hessen von Neonazis begangen wurden oder diese als Täter nahelegen.
• Ein Sprengsatz an einem Auto in Frankfurt im Jahr 2000
• Schüsse auf Linke in Kassel 2001 und 2003
4. Mordfall Lübcke
Mit einer Geheimhaltungsfrist von 120 Jahren sollte in erste Linie die eigene Unfähigkeit vertuscht werden. Dass der Geheimdienst weder lernfähig noch reformierbar ist – sondern brandgefährlich – zeigte auch der Mord an Walter Lübcke im Jahr 2019.
• Stephan Ernst und Markus Hartmann
Kapitel 1: NSU-Komplex
Der Geheimbericht enthält Informationen zu Personen und Gruppen, die im NSU-Komplex eine Rolle spielen. Es zeigt sich allerdings, dass man weder deren Brisanz erkannt noch diese systematisch untersucht hat. Neonazis, die gesondert überprüft werden sollten, wurden kaum auf ihre Strukturen hin analysiert. Organisationen und Netzwerke, denen sie angehörten, wurden offensichtlich für nicht relevant befunden.
Der Arbeitsauftrag an den hessischen Inlandsgeheimdienst lautete, die „Kontakte hessischer Gruppierungen oder Personen zu relevanten Gruppierungen, Personen und Szeneobjekten – insbesondere in Thüringen oder in Sachsen“ zu finden und zu melden. Zudem sollte er die Liste der 77 Namen abarbeiten, die im Fokus standen.
Schlussendlich fand die Behörde keine relevanten Bezüge zum NSU. In der abschließenden Bewertung schreibt sie: „Bei sehr wenigen Aktenstücken ließ sich ein möglicher Bezug zum NSU-Trio ableiten oder es wurden Hintergrundinformationen mit möglichen Bezügen zum NSU-Umfeld sowie sonstige Hinweise zu möglichen rechtsterroristischen Aktivitäten im Allgemeinen erkannt. Konkret handelte es sich allerdings auch hier um bereits bekannte Informationen im Zusammenhang mit möglichen Kontaktpersonen oder Namens- bzw. Lichtbildähnlichkeiten zu Personen aus dem NSU-Komplex oder im Zusammenhang mit Interneteintragungen.“
Weiter heißt es:
„Zusammenfassend gab es folgende Ergebnisse der Aktenprüfung:
• Es fanden sich keine Hinweise auf oder Informationen zu einem terroristischen Verhalten von Rechtsextremisten.
• Es gab keine Bezüge oder Informationen zu den Straf- und Gewalttaten des NSU.
• Informationen zu den drei Mitgliedern des NSU bzw. zu Personen aus deren Umfeld beschränkten sich auf Informationen zu szenetypischen Aktivitäten dieser Personen (ohne Bezug zu den Straf- und Gewalttaten des NSU).“
Der Bericht enthält durchaus interessante Informationen in Bezug auf den NSU. Die einzelnen Meldungen, die den Behörden vorliegen, werden aber nicht als Puzzleteile in einen Gesamtzusammenhang gebracht. Im Geheimbericht finden sich nur Bruchstücke von relevanten Erkenntnissen, die im folgenden im Gesamtkontext gestellt werden.
Thorsten Heise, Corryna Görtz und die „Untergrundorganisation Nordhessen“
Der Thüringer Neonazi Thorsten Heise ist einer der führenden deutschen Neonazis. Er steht auf der Liste der 77 Namen, auf die die Mitarbeitenden des hessischen Inlandsgeheimdienstes besonders achten sollten. Die knapp 20 Meldungen, die sich über ihn im Geheimbericht finden, sind teilweise wiederholend oder er wird im Zusammenhang mit Veranstaltungen erwähnt, an denen er teilnahm. Nur eine Meldung sticht heraus, als man zu einer Razzia bei Heise notierte: „am 14.03.03. Auffinden u. a. von 247 Patronen (waffenbesitzkartenpflichtige KK- Munition), zwei Gewehren, eine zerlegte Maschinenpistole mit Magazintrommel, ein Maschinengewehr (LMG) und eine Stilhandgranate“ (Fehler im Original). Die Durchsuchung war allerdings am 15. Februar 2003 und es wurden 447 Patronen gefunden.
Das Netzwerk um Heise und die große Rolle, die er für militante Neonazis im Nord- und Osthessen spielt(e), sind im Bericht nicht ansatzweise erfasst. Heise war dem Kreis der Unterstützenden des NSU in vielfältiger Weise verbunden. Als beispielsweise im Oktober 2007 die Polizei sein Anwesen durchsuchte, fand sie dieses Mal neben einer Maschinenpistole und einer halbautomatischen Waffe nebst Munition auch mehrere Tonbandkassetten. Auf einer dieser Kassetten hatte Heise ein mehrstündiges Gespräch aufgezeichnet, dass er mit Tino Brandt, dem ehemaligen V-Mann und Anführer des «Thüringer Heimatschutzes», geführt hatte. Brandt berichtet Heise u.a. davon, wie die Szene Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt mit Einnahmen aus „Solidaritätskonzerten“ unterstützte. Laut Brandt waren „Unmengen Gelder“ für die Untergetauchten gesammelt worden. Heise wirkt nicht überrascht, sondern quittiert diese Information mit einem bestätigenden „Genau“.
Um Heise hatte sich in den 1990er Jahren ein Netzwerk des deutschen «Combat 18» aufgebaut, das ins internationale Netzwerk von «Blood & Honour» eingegliedert war und ist. Ende der 1990er Jahre entstand die «Arische Bruderschaft»als eine Kadertruppe, die die Interessen von Thorsten Heise in verschiedenen Bundesländern vertritt. Der «Arischen Bruderschaft» gehör(t)en auch Neonazis aus Nord,- Ost- und Mittelhessen an. Bis 1999 agierte Heise vom niedersächsischen Northeim aus, nach einer Haftstrafe zog er 2002 ins thüringische Fretterode, nah an der Grenze zu Nordhessen. Sowohl Northeim als auch das Grundstück in Fretterode waren feste Anlaufstelle für die Kasseler Kameradschaftsszene. Im Geheimbericht finden sich dazu nur wenige und dünne Informationen, so in einer Meldung von 2003: „Kontakte der ‚Kameradschaft Kassel’ hätten bestanden zu ‚B&H’ und zu Thorsten Heise ‚Kameradschaft Nordheim’ bestanden“ (Fehler im Original).
Zu den engsten Vertrauten von Heise zählten ab den frühen 1990er Jahren Dirk Winkel und Corryna Görtz, die in einer Partnerschaft verbunden waren. Beide wohnten bei Kassel. Winkel war stellvertretender Landesvorsitzender der 1995 verbotenen «Freiheitlichen Arbeiterpartei Deutschland» (FAP) in Hessen, Heise führte die FAP in Niedersachsen an und Corryna Görtz betrieb zeitweise Heises Partei-Geschäfte. Im Geheimbericht finden sich mehrere Meldungen über den Aufbau einer neonazistischen „Untergrundorganisation Nordhessen“ ab den 1990er-Jahren, als deren führender Kopf Winkel genannt wird. Auch ist aus dem Bericht herauszulesen, dass der hessische Inlandsgeheimdienst bereits 1993 darüber informiert war, dass Winkel und der Kasseler Neonazi Markus Eckel (der u.a. der «Arischen Bruderschaft» angehörte) einem Schützenverein beigetreten waren, um sich auf legalem Weg Schusswaffen beschaffen zu können. 1994 notierte er, dass Winkel eine Schusswaffe in einem Bankschließfach aufbewahren würde. 1998 wusste der Inlandsgeheimdienst von Gesprächen am Stammtisch der Kasseler NPD, bei der ein Teilnehmer berichtete, „dass eine ‚Untergrundorganisation‘ gegründet werden soll, die dann illegale Aktionen durchführen soll.“ Als deren Anführer wird wieder Winkel genannt. Im Geheimbericht findet sich eine teilweise geschwärzte Meldung vom Juni 1999. Darin erfährt man von der Existenz einer überregional vernetzten Untergrundorganisation, von der „einige Dinge […] in Kassel geregelt“ würden. Aus dem Geheimbericht geht auch hervor, dass der hessische Inlandsgeheimdienst 2012 die „Parlamentarische Kontrollkommission über den Verfassungsschutz“ (PKV) über diese „mögliche terroristische Struktur in Nordhessen (Raum Kassel) um Dirk Winkel Ende der 1990er Jahre“ unterrichtete.
Corryna Görtz war Anfang der 1990er Jahre aus Thüringen nach Kassel gekommen. In einer „Bildmappe rechtsextremistischer Gewalttäter im Freistaat Thüringen“, die das Landeskriminalamt Thüringen 1997 als internes Fahndungsmittel erstellt hatte, ist sie neben Beate Zschäpe als einzige Frau aufgeführt. Im Jahr 1998 stellte die Polizei bei einer Razzia in ihrer Wohnung bei Kassel Waffen sicher. Oliver P., ein ehemals führender Neonazi der Kasseler Szene, kannte sie gut. Er sagte vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss: „Von der Corryna Görtz habe ich die Frage vernommen, da hat sie uns gesagt: ‚Wie, ihr kocht nicht?‘ Sie hat das wohl so als normal irgendwie dargestellt, sich da irgendwelche Chemikalien zusammenzurühren, und da hat sie eben gesagt: ‚Wie, ihr kocht nicht?‘ Da haben wir gesagt: ‚Was sollen wir kochen?‘ Da habe ich mich schon sehr gewundert.“
Kochen war und ist die Chiffre für Sprengstoff oder Bomben herstellen. In einer anderen Quelle heißt es, Görtz habe ein kleines Heftchen mit Bombenbau-Anleitungen in Umlauf gebracht, das „Giftpilz“ hieß. Das sei sehr konspirativ weitergeben worden. Die Linksfraktion im hessischen Parlament schreibt im einem Bericht über den hessischen NSU-Untersuchungsausschuss: „Aus den Akten geht ebenfalls hervor, dass Görtz sich mit Bombenbau beschäftigt hat. So heißt es in einem Vermerk des LfV Hessen vom 12.09.2013, dass Görtz Herausgeberin vom ‚Giftpilz‘ gewesen sei, einem Heft mit Anleitungen zum Bombenbau.“ Görtz hat dies abgestritten. Doch der Inlandsgeheimdienst wusste darüber – wie über so vieles, was sich im unmittelbaren Umfeld um Thorsten Heise abspielt(e) – sehr genau bescheid. Ihm war sicherlich bekannt, dass Thorsten Heise den Druck des „Giftpilz“-Heftes übernommen hatte. Eine der wichtigsten Quellen in Heises Umfeld war der V- Mann Michael See, der das „Bundesamt für Verfassungsschutz“ über die militante Szene im Dreiländereck Thüringen – Niedersachsen – Hessen informierte. Er war mit Winkel, Görtz und Heise viele Jahre eng verbunden. In seiner Aussage vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss war er sich sicher, dass Görtz zu Böhnhardt, Mundlos und anderen Personen der Jenaer Szene Kontakt gehabt hatte. Auch erzählte er, er sei vom Jenaer NSU-Unterstützer André Kapke angerufen und nach einem Versteck für drei namentlich nicht genannte Personen gefragt worden. Als er im Untersuchungsausschuss des Bundestages gefragt wurde, ob jemand diesen Anruf bezeugen könne, benannte er Corryna Görtz, die wiederum vorgab, sich daran nicht erinnern zu können.
Im September 2017 wurde Corryna Görtz im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss vernommen und gab dort auf Nachfrage zu, dass sie in den Wochen vor dem Mord an Halit Yozgat mehrfach das Internetcafé seiner Familie besucht hatte, in dem er am 6. April 2006 erschossen wurde. Zu dieser Zeit unterhielt sie auch eine Beziehung zum (2021 verstorbenen) Dortmunder Neonazi Siegfried Borchardt. Der wohnte 2006 nur wenige hundert Meter von dem Ort in der Dortmunder Nordstadt entfernt, an dem am 4. April 2006 Mehmet Kubaşık vom NSU ermordet worden war. Eine brisante Verbindung, die dem Inlandsgeheimdienst mit Sicherheit bekannt war, die aber im Geheimbericht nicht ersichtlich ist. Im ungeschwärzten Teil findet sich kein Hinweis auf Corryna Görtz, ihr Name ist kein einziges Mal genannt.
Die Kassel-Dortmund-Verbindung: «Oidoxie Streetfighting Crew»
Überhaupt geht der Geheimbericht mit keinem Wort auf die zeitliche Nähe zwischen den beiden Tatorten Dortmund und Kassel ein. In Dortmund ermordete der NSU am 4. April 2006 Mehmet Kubaşık. Nur 52 Stunden später ermordete er in Kassel Halit Yozgat. Der Zusammenhang liegt auf der Hand. Doch in dem Bericht findet man keine Hinweise darauf, was die militanten Szenen in Kassel und Dortmund im Jahr 2006 verband.
Neben der Beziehung von Corryna Görtz zu Siegfried Borchardt gab es zu dieser Zeit die «Oidoxie Streetfighting Crew» (SFC), die sich als die führende Gruppe des deutschen «Combat 18» verstand. Die SFC war um 2003 aus dem „Saalschutz“ der Dortmunder C18-Band «Oidoxie» entstanden. Zunächst auf den Raum Dortmund beschränkt gründeten sich – autorisiert von den Dortmundern – auch in Kassel und in Schweden „Crews“. Am 18. März 2006 feierte Stanley Röske, der Anführer der Hessen-„Crew“ mit Livemusik von «Oidoxie» seinen Geburtstag im Clubhaus der Rockergruppe «Bandidos» in Kassel. Am 17. Juni 2006 spielte «Oidoxie» am selben Ort auf der Geburtstagsfeier von „Crew-Member“ Michel Friedrich vor 50 bis 100 geladenen Gästen. Zu beiden Events war eine größere Gruppe der Dortmunder SFC mit nach Kassel gekommen. Auf die beiden Konzerte am 18. März und 17. Juni – die in zeitlicher Nähe zum Mord an Halit Yozgat stattfanden – finden sich im lesbaren Teil des Geheimberichts keine Hinweise. Dies ist umso bemerkenswerter, da auf zwei nachfolgenden Konzerte der SFC im Kasseler «Bandidos»-Clubhaus, am 21. Oktober 2006 und am 17. März 2007, verhältnismäßig ausführlich eingegangen wird. Auch ist in dem Bericht an keiner Stelle die «Oidoxie Streetfighting Crew» und der intensive Austausch mit gegenseitigen Besuchen zwischen «Combat 18»-Neonazis aus Kassel und Dortmund erwähnt.
Andreas Temme: Der V-Mann-Führer am Tatort
Ein wunder Punkt für die Behörden ist die Anwesenheit des Geheimdienst-Mitarbeiters Andreas Temme am Tatort im Internetcafé der Familie Yozgat am 6. April 2006. Als im Vorraum des Internet-Cafés Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde, saß Temme im hinteren Raum. Nach den Schüssen verließ er fluchtartig den Tatort ohne sich um den sterbenden Halit Yozgat zu kümmern. Nahezu alles, was Temme dazu erzählte, ist unplausibel und in Teilen – unter anderem durch wissenschaftliche Gutachten – widerlegt. Als V-Mann-Führer im Inlandsgeheimdienst steuerte Temme mehrere Spitzel in der neonazistischen Szene. Von diesen ist bisher nur der Neonazi Benjamin Gärtner bekannt geworden.
Im Jahr 2019 kam zudem heraus, dass Temme dienstlich auch mit Stephan Ernst befasst war, der am 2. Juni 2019 den nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen hatte. „Dienstlich befasst“ muss allerdings nicht mehr bedeuten, als dass der Name auf seinem Schreibtisch lag.
Der Geheimbericht enthält keine lesbaren Details über die Verstrickung Temmes in den NSU-Komplex. Eine interessante Meldung zu Temme findet sich allerdings im Bericht. So schreibt man: „[geschwärzt] wurde beim LfV Hessen ohne F- und W Phase unmittelbar als [geschwärzt] verpflichtet! d.h. es gibt einen örtlichen Bezug zu Temme. [geschwärzt] wollte sich laut Erstgespräch nach seiner [geschwärzt] vorrangig um den Aufbau der JN/NPD im Raum Kassel kümmern. Anm. hier zeigt sich schon im Erstgespräch die Gefahr, dass [geschwärzt] eine extremistische Szene steuert bzw. aufbaut!“
Die Information scheint aus einer Personen-Akte aus dem Jahre 1999 zu stammen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde hier ein Erstgespräch zwischen einem Neonazi und einem Mitarbeitenden der hessischen Behörde dokumentiert. Der kryptisch-formulierte Satzteil „ohne F- und W Phase“ bedeutet „Forschungs- und Werbungsphase“. Eine Begrifflichkeit aus der Behörde, die u.a. das Ausspähen einer Zielperson meint, die für eine Zusammenarbeit angesprochen werden soll. Oft werden über mehrere Monate Informationen zu der Person gesammelt und analysiert um zu prüfen, ob die Person als „Vertrauensperson“ geeignet ist. 1999 schien der hessische Geheimdienst eine V-Person angeworben zu haben, ohne diese Hintergrundrecherche betrieben zu haben. Aus dem Text geht hervor, dass eine V-Person einen örtlichen Bezug zu Temme haben soll, der damals in Hofgeismar lebte. Die Angaben passen im Wesentlichen auf zwei Neonazis. Der eine ist der damalige Stützpunktleiter der NPD-Jugendorganisation «Junge Nationaldemokraten», er ist mittlerweile über „Exit“ ausgestiegen. Der andere war in den vergangenen Jahren unter anderem in Waffengeschäfte zwischen Neonaziszene und sogenanntem „Rotlicht-Milieu“ verstrickt, verdiente sein Geld auch mit dem Verkauf von NS-Devotionalien, ist als Liedermacher bekannt und spielte eine CD-Produktion mit dem Titel „Der Untergrund stirbt nie“ ein.
«Blood & Honour Chemnitz» und «Blood & Honour Südhessen»
Im Arbeitsauftrag an den hessischen Inlandsgeheimdienst war das Netzwerk «Blood & Honour» hervorgehoben worden: „Besonders zu beachten sind Hinweise im Zusammenhang mit Blood & Honour bzw. Rocker-Bezügen.“ Das Netzwerk «Blood & Honour» (B&H) war in Deutschland im Jahr 2000 wegen seiner militanten und offen nationalsozialistischen Ausrichtung verboten worden, wurde jedoch in Nachfolgeorganisationen weitergeführt. Innerhalb von «Blood & Honour» hatte sich eine terroristische Struktur gebildet, die sich «Combat 18» nennt. «Combat 18» findet sich in der vorliegenden Fassung des Geheimberichts nur in vier größtenteils geschwärzten Meldungen. Einmal ist die Organisation als „Compat 18“ benannt.
«Blood & Honour» bzw. B&H taucht in den lesbaren Meldungen des Geheimberichts 15 Mal auf. Die Informationen sind in wesentlichen Teilen geschwärzt oder irrelevant. Der hessische Inlandsgeheimdienst schreibt über ein Zusammenwirken „von (insbesondere neonazistischen) Rechtsextremisten und Blood-&-Honour-Personen […] die in der Regel über gemeinsame Musikveranstaltungen belegt sind“. Damit wird suggeriert, man hätte sich im Milieu von B&H vorrangig getroffen, um gemeinsam Musik zu hören. Diese Darstellung war immer falsch, irreführend und verharmlosend. Schon 2012 war auf der Grundlage von Aussagen ausgestiegener ehemaliger Neonazis vielfach beschrieben worden, dass diese „Musikveranstaltungen“ für den harten Kern des B&H-Kreises nur einen Rahmen für ein Zusammenkommen bildeten, in dem Organisatorisches besprochen und Straftaten geplant wurden.
In seinen Akten fand der hessische Inlandsgeheimdienst ein Foto von Beate Zschäpe. Eine V-Person, die 1996 an einem Neonazikonzert in Sachsen teilgenommen hatte, machte das Foto und übergab es dem Dienst. Dazu heißt es: „Zu einem Skinheadkonzert am 14.09.96 In Chemnitz liegt dem LfV Hessen gemäß Bericht eine Lichtbildmappe der VA vor. Hier konnte Beate ZSCHÄPE zweifelsfrei als Teilnehmer Identifiziert werden“ (Fehler im Original). Doch verschweigt der Bericht, dass es sich um ein Konzert von «Blood & Honour» handelt. Über dieses Konzert (was im Übrigen von Chemnitz nach Zwickau verlegt worden war) hatte die Zeitschrift „Blood & Honour Deutschland“ Nr. 2 berichtet. Vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages gab Iris Pilling, Abteilungsleiterin des hessischen Inlandsgeheimdienstes, an, dass nicht mehr zu rekonstruieren sei, wer diese V-Person war.
Eine wesentliche Unterstützungsstruktur der untergetauchten Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos kam aus den Reihen von «Blood & Honour» in Chemnitz. Das Besondere war, dass nicht nur Einzelpersonen, sondern die Struktur des Chemnitzer B&H die untergetauchten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt ab 1998 unterbrachte und unterstützte. Auf Gruppentreffen von B&H Chemnitz informierte man darüber, was die drei planten und wer ihnen beispielsweise Ausweise verschaffte.
Der Geheimbericht gibt keine Information über die Verbindungen des Chemnitzer B&H nach Hessen preis. Doch diese bestanden insbesondere zu Personen der Sektion «Blood & Honour Südhessen». Deren Treffpunkt war das Ladengeschäft «CD-Room» in Offenbach am Main. Die Mitbetreiberin des Geschäftes, Esther Dadischeck, kam aus Chemnitz und war wegen ihrer Partnerschaft zu einer führenden Person von B&H Südhessen nach Offenbach gezogen. Von Ausgestiegenen wird Dadischeck als eine politische Scharfmacherin charakterisiert.
Frankfurter Antifaschist*innen schreiben: „Intensive Beziehungen unterhielten die Offenbach B&H-Leute insbesondere zu Blood & Honour in Chemnitz. Häufig wurden Chemnitzer Neonazis in Offenbach festgestellt, bei einer antifaschistischen Demonstration gegen den CD-Room 1999 reisten nach unserem Kenntnisstand über ein Dutzend Chemnitzer Neonazis zum Schutz des Ladengeschäftes an.“
Auch in Publikationen von B&H Südhessen finden sich Fotos von Chemnitzer B&H-Leuten bei gemeinsamen Unternehmungen. Vor allem über gemeinsame Reisen zu Konzerten wurden Beziehungen gepflegt und ausgebaut. Gemeinsam u.a. mit Hendrik Lasch, Jan Werner und Thomas Starke aus Chemnitz, die Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos nach deren Untertauchen unmittelbar unterstützten, fuhren die Hessen schon im August 1997 zu einem Konzert nach Ungarn. Im Fanzine „Äbbelwoi-Express“ der hessischen Szene finden sich darüber hinaus zahlreiche Bilder von Protagonisten der Chemnitzer B&H-Sektion. In den Publikationen der Chemnitzer B&H-Sektion wird wiederum auf ein „Team Offenbach / B&H Südhessen“ verwiesen, das als einziges westdeutsches Team im Juni 1997 an einem Fußballturnier von B&H Sachsen teilnahm.
In den Reihen von «Blood & Honour Südhessen» formierte sich Ende der 1990er Jahre ein harter Kern, der sich als Gruppe des «Combat 18» (C18, dem „bewaffneten Arm“ von B&H) verstand. Einiges deutet darauf hin, dass Personen dieser Gruppe im Jahr 2000 in Frankfurt versuchten einen Antifaschisten zu ermorden.
Über «Blood & Honour» als Unterstützungsstruktur des NSU-Kerntrios ist zwischenzeitlich ausführlich in diversen Publikationen berichtet worden. Ebenso finden sich detaillierte Informationen in den Abschlussberichten der Untersuchungsausschüsse aus Bund und Ländern.
Thomas Gerlach und die Hammerskins
Die Wege des Thüringer Neonazis Thomas Gerlach kreuzten sich mit UnterstützerInnen des NSU in derart auffälliger Weise, dass er als Schlüsselfigur im Helfernetzwerk des NSU gesehen werden kann. Thomas Gerlach ist auf der Liste der 77 aufgeführt, es finden sich über ihn im Geheimbericht insgesamt 28 Meldungen, die von 2002 bis 2012 reichen. Die meisten sind wertlos, da sie nur unwichtige Informationen enthalten und sich wiederholen. Weitere sind ganz oder in wesentlichen Teilen geschwärzt. Mehrere Meldungen beziehen sich auf Gerlachs führende Rolle in der Neonazigruppe «Kampfbund Deutscher Sozialisten», die von 1999 bis 2008 bestand. Darüber hatte er enge Kontakte zu südhessischen Neonazis. Auch meldet der Inlandsgeheimdienst, dass Gerlach bei einem Neonazikonzert im Jahr 2006 im nordhessischen Frielendorf für die Versorgung zuständig war. Kein Wort findet sich hingegen darüber, dass dieses Konzert von den neonazistischen Hammerskins organisiert worden war. In einer Notiz aus dem Jahr 2012 heißt es: „Thomas Gerlach ist als Mitglied der Hammerskins in einer Auflistung der Polizei aufgeführt.“ Quelle ist eine Zusammenstellung von Aktivitäten der Hammerskins, die die Polizeiinspektion Cuxhaven 2011 verfasst und bundesweit an Sicherheitsbehörden verschickt hatte. Darüber hinaus sind die Hammerskins in dem Dokument noch zweimal im Zusammenhang mit einem Konzert 2006 in Griesheim (bei Darmstadt) erwähnt, das von ihnen veranstaltet worden war.
Dass im Geheimbericht sonst nichts über die Hammerskins zu finden ist, lässt den Schluss zu, dass sie vom Inlandsgeheimdienst nicht als eine für ihren Arbeitsauftrag „relevante Gruppe“ bewertet wurden. Die Hammerskins, denen Gerlach seit den frühen 2000er Jahren angehört, verstehen sich als eine verschworene Bruderschaft und als Elite der Neonaziszene. Sie sind weltweit vernetzt und richten unter anderem in den USA Schießtrainings aus, an denen immer wieder auch deutsche „Brüder“ teilnehmen. Die Hammerskins verbreiten die Propaganda des „Leaderless Resistance“ (führerloser Widerstand) und verehren rechtsterroristischen Gruppen wie «The Order» aus den USA. In Deutschland begingen Hammerskins seit den 1990er Jahren mehrere rassistisch und sozialdarwinistisch motivierte Morde.
Immer wieder kam Gerlach mit hessischen Neonazis zusammen, die den «Hammerskins Franken» angehören – einen eigenen, hessischen Ableger der Bruderschaft gab es nicht. Auf internen Treffen, den „National Officers Meetings“ im deutschsprachigen Raum und den „European Officers Meetings“ im internationalen Kontext, wird in vertrauter Runde Organisatorisches der Hammerskins besprochen. Auch Konzerte, die vom Netzwerk der «Hammerskin Nation» (HSN) ausgerichtet wurden, dienen dem Austausch. Unter anderen mit einem hessischen Hammerskin, Dennis Kühlwein aus Viernheim (Südhessen), und einem weiteren Unterstützer der HSN aus Bad Hersfeld (Nordosthessen) reiste Thomas Gerlach 2005 zu einem Hammerskin-Konzert nach Spanien. Auch nach Portugal war Gerlach bestens vernetzt. Nach Erkenntnissen des portugiesischen Geheimdienstes von 2006 soll Gerlach portugiesischen Hammerskins die Beschaffung von Schusswaffen und Zubehör zugesichert haben. Einer Razzia gegen die «Portugal Hammerskins» in 2007 folgte ein mehrjähriger Gerichtsprozess, bei dem der Chef des portugiesischen Chapters am Ende zu einer Haftstrafe u.a. wegen Nötigung, Entführung, Raub und illegalen Waffenbesitzes verurteilt wurde. Eine ausführliche Betrachtung der Hammerskins und der Aktivitäten Gerlach sind auf der Seite von Exif-Recherche nachzulesen.
Der Bericht benennt zwar einzelne Personen der Hammerskins, doch wird deren Zugehörigkeit bzw. deutliche Anbindung zu den Hammerskins ausgeblendet. Wie im Falle von Steven Haase, damals wohnhaft im hessischen Offenbach (heute wohnhaft in Rheinland-Pfalz). Über ihn teilt der Inlandsgeheimdienst in Meldungen aus dem Jahr 2012 mit, dass er an Schießübungen in der Schweiz teilgenommen habe. Haase war eine führende Personen der «Freien Nationalisten Rhein-Main», die Ende der 2000er Jahre zerfielen. 2011 reiste er mit dem Europa-Chef der Hammerskins Malte Redeker zu einem Hammerskin-Konzert nach Mecklenburg-Vorpommern, die Polizei vermerkte ihn in diesem Jahr als den «Hammerskins Westmark» zugehörig. Doch im Geheimbericht ist diese Zugehörigkeit nicht erkennbar.
Über Marc Winkenbach aus Viernheim (Südhessen) erfährt man in diesem Bericht, dass auf ihn 2011 eine Waffenbesitzkarte ausgestellt war und dass er die Jagdprüfung abgelegt haben soll. Es folgt eine Auflistung der Schusswaffen, die zu dieser Zeit auf ihn registriert waren – doch die Hammerskins, in deren Kreis sich Winkenbach zu dieser Zeit bewegte, sind auch hier nicht erwähnt.
Vor allem über Daniel Orlewicz aus Petersberg bei Fulda hätte es viel zu berichten gegeben. Er wurde 2008 Anwärter und um 2010 Vollmitglied bei den «Hammerskins Franken» und gilt heute als Führungsperson und Organisator in diesem Chapter. Seit der Jahrtausendwende fällt er als Teilnehmer überregionaler neonazistischer Aufmärsche und Konzerte auf, veranstaltete 2006 selbst ein Konzert. Ende der 2000er Jahre war er auf Aufmärschen des «Freien Netz Süd» (FNS) als Ordner eingesetzt, zusammen mit seinen „Brüdern“ vom Chapter «Franken», die maßgeblich am Aufbau des FNS beteiligt waren. Das Konzept des «Freien Netz» als Dachverband lokaler Kameradschaften entstand ab 2007 in Thüringen und Sachsen unter der Obhut von Protagonisten der «Hammerskins Sachsen» – allen voran Thomas Gerlach. Als die «AG Merseburg» als Teil des «Freien Netz» am 19. Juni 2010 einen Aufmarsch in Merseburg veranstaltete, trat Orlewicz auch dort als Ordner auf. Während sich das «Freie Netz» in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt selbst auflöste, wurde das «Freie Netz Süd» 2014 vom bayerischen Innenminister verboten.
Auch außerhalb der Veranstaltungen der Hammerskins war Orlewicz anzutreffen, etwa bei einem offenbar von «Combat 18» organisierten Konzert mit «Oidoxie» am 17. März 2012 in Nordhessen. Dort reiste er u.a. mit seinem Hammerskin-„Bruder“ Manuel Hahn an.
Aber auch Manuel Hahn aus Schwalmstadt (Nordhessen) bleibt im dem Bericht außen vor. Er war um 2008 bei den «Hammerskins Franken» Anwärter geworden und tritt seit 2010 als Vollmitglied auf. Im September 2010 reiste er mit Malte Redeker zu einem internationalen Hammerskin-Treffen in die USA. Im Vorfeld fragte Redeker die US-amerikanischen Gastgeber, was gemeinsam unternommen werden könne. Was Redeker vorschwebte war: „Barbeque, Nigger hunting or anything like that.“ (sic!). (dt.: „Grillen, N*****jagd oder so etwas.“). Die Antwort eines US-amerikanischen Hammerskins lautete: „Iam sure some of the boys will want to go out in the woods and make loud noises.“ (dt.: „Ich bin sicher, einige der Jungs werden in den Wald gehen und lauten Krach machen wollen.“)
Auf einem Gruppenbild im Rahmen des Hammerfest 2010 ist Manuel Hahn zu sehen und auch der Hammerskin Wade Michael Page. Dieser verübte im August 2012 ein rassistisch motiviertes Attentat auf einen Tempel der Sikh-Glaubensgemeinschaft in Wisconsin und tötete dabei sieben Menschen.
Im europäischen Kontext waren deutsche Angehörige der «Hammerskin Nation» zahlreich auf dem „European Hammerfest“ im Oktober 2008 in Budapest (Ungarn) vertreten. Auch die hessischen Hammerskins Daniel Orlewicz, René-Sebastian Stöcklein, Manuel Hahn und Dennis Kühlwein waren vor Ort. In einem virtuellen „Erinnerungsalbum 18.10.2008 Budapest“ eines Reiseteilnehmers findet sich das Foto eines Hammerskins in einem fensterlosen Raum voller Metallkisten. An der Wand hängt eine Hakenkreuzfahne, er hält eine Panzerfaust in der Hand. Ob hier ein Waffenlager oder nur Weltkriegsschrott vorgeführt wurde, ist nicht zu verifizieren. Doch das Bild steht beispielhaft für die Begeisterung der Hammerskins für Waffen und Kriegsgerät aller Art. Im alljährlichen „Verfassungsschutzbericht Hessen“, der vom hessischen Inlandsgeheimdienst herausgegeben wird, wird das Treiben der Hammerskins seit Jahren konsequent verschwiegen.
Der «Ku Klux Klan» in Hessen
Das Interesse am «Ku Klux Klan» im NSU-Komplex rührte daher, dass extrem rechte Polizisten aus Baden-Württemberg der Gruppe «European White Knights of the Ku Klux Klan» (EWK KKK) angehört hatten. Diese Polizisten standen in Zusammenhang mit der Polizistin Michèle Kiesewetter, die 2007 in Heilbronn als letztes bekanntes Opfer des NSU ermordet worden war. Die Brisanz der Gruppe erklärt sich auch darüber, dass sie von einem V-Mann des baden-württembergischen Inlandsgeheimdienstes angeleitet wurde, und dass auch der V-Mann „Corelli“ Mitglied der Gruppe gewesen war. „Corelli“, eigentlich Thomas Richter, war eine „Top-Quelle“ des „Bundesamtes für Verfassungsschutz“ im neonazistischen Milieu und nah am Kreis des NSU platziert.
Im Fazit des Geheimberichts heißt es: „Positiv ist, dass es kaum Hinweise auf den Ku Klux Klan gab, der wegen der Vorkommnisse in Baden-Württemberg besondere Aufmerksamkeit erhalten hat.“
Im September 2012 berichtete die Behörde dazu ihre Ergebnisse an die „Parlamentarische Kontrollkommission Verfassungsschutz“ (PKV): „Hinweise auf Existenz des Ku-Klux-Klan in Hessen (wegen Berichterstattung der angeblichen Verwicklung zweier Polizeibeamter in Baden-Württemberg im Umfeld der ermordeten bzw. schwerst verletzten Polizisten in Heilbronn (Baden-Württemberg).“
Konkrete Meldungen dazu sind im Bericht geschwärzt, so dass sich nicht überprüfen lässt, was der hessische Geheimdienst als „positiv“ bewertet.
Zu mindestens zwei Hessen, die laut eines Dokuments vom Geheimdienst Baden-Württemberg Mitglieder der EWK KKK waren, hätte es durchaus Interessantes zu berichten gegeben. Zum Beispiel zu Sebastian Lewing, der zu Zeiten der EWK KKK im südhessischen Riedstadt wohnte. Lewing war in den 2000er Jahren eng mit den Strukturen der «Kameradschaft Bergstraße» und der «Freien Nationalisten Rhein-Main» verbunden und gehört heute noch der Szene an. Er wohnt in Rheinland-Pfalz und ist weiterhin überregional mit der militanten rechten Szene verbunden.
Dem EWK KKK zugehörig war auch Michael S. aus Dietzenbach (Landkreis Offenbach). Er war zum Zeitpunkt der Erstellung des Geheimberichts bei der Bundesmarine und für diese im Ausland im Einsatz, vermutlich in Djibouti.Noch um 2010 pflegte er über Soziale Netzwerke Kennverhältnisse in die Naziszene.
Manfred Roeder und das Trio
Unter der Überschrift: „Geprüfte Hinweise ohne belegbaren Bezug zum NSU-Komplex“ fasst die Behörde die Meldung über den verurteilten Rechtsterroristen Manfred Roeder aus Nordhessen zusammen: „Angebliche Überlegungen des ‚Zwickauer Trios’ Kontakt zu Roeder aufzunehmen bzw. dessen Anwesen als mögliches Versteck nutzen zu wollen Hinweis auf mögliche geplante Unterbringung des Trios bei M. Roeder“. Eine Meldung aus der Tabelle aus dem Jahr 2012 dazu heißt: „In Bezug auf mögliche Verstecke der Terrorzelle könnte auch das Anwesen des Roeder Manfred in Betracht kommen. Lt. [geschwärzt] bietet er Unterkunft für Akte Gäste ‚jeglicher Art‘. I. R. der polizeilichen Ermittlungen keine Bezüge zu Roeder bestätigt“. (Fehler im Original)
Es erstaunt, dass der Geheimdienst 2012 keine Verbindung zwischen dem NSU und Manfred Roeder finden konnte. Denn am 14. November 2011 – also während der Bestandsaufnahme des hessischen Geheimdiensts – wurde in der Thüringer Allgemeinen ein Foto veröffentlicht, das Uwe Böhnhardt im September 1996 bei einem Prozess von Manfred Roeder in Erfurt zeigt. Zusammen mit weiteren Neonazis, die unerkannt geblieben waren, hatte Roeder im Juni 1996 einen Farbanschlag auf die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ verübt. Unterstützt wurde Roeder vor Gericht von Neonazis der «Kameradschaft Jena», darunter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sowie die NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben und André Kapke. Ebenfalls dabei: Der V-Mann Tino Brandt. Die Neonazis entrollten ein Transparent mit der Aufschrift „Unsere Großväter waren keine Verbrecher“, setzten sich präsent in die erste Reihe und bepöbelten nach dem Prozess Antifaschist*innen.
Es stellt sich die Frage, warum diese Solidaritätsbekundung für einen der bekanntesten deutschen Rechtsterroristen nicht im Bericht auftaucht. Sicher war Roeder ein Beobachtungsobjekt des hessischen Inlandsgeheimdienstes. Dessen ehemaliger Leiter der Abteilung „Auswertung“ Peter Stark sagte im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss aus, dass es selbstverständlich Quellen in Roeders Umfeld gegeben hatte.
„[…] Das waren 15, 16 Leitzordner, die sich nur mit Roeder befasst haben. Roeder hat mich vom Berufsanfang bis zum Berufsende begleitet“. Auch die Relevanz des Prozesses wurde nicht falsch eingeschätzt, es sei wichtig gewesen, Roeders Unterstützer zu identifizieren. Zur Frage, ob der hessische Inlandsgeheimdienst eigene Quellen im Publikum hatte, gab er an: „Wir haben natürlich unsere Quellen auch gehabt.“ Den Spitzeln gab man den Auftrag: „Bitte schön: Geh da rein und guck nach, wer da anwesend ist.“ Der thüringische und der hessische Geheimdienst hatten also (mindestens) zwei Spitzel im Gerichtssaal, Tino Brandt sowie eine unbekannte Person.
Dennoch findet der Auftritt von Böhnhardt und Mundlos beim Roeder-Prozess im Geheimbericht keine Erwähnung, obgleich er eine durchaus interessante Verbindung eines hessischen Neonazis zu den Mördern des NSU markiert. Der Geheimdienst gibt an, dass dutzende Mitarbeitende sämtliche Akten auf hessische Verbindungen zum NSU-Komplex geprüft hätten. Ob und wie gründlich dies erfolgt ist, ist angesichts der fehlenden Thematisierung des Roeder-Prozesses mehr als fraglich.
Kapitel 2: Das Pulverfass
Der Geheimdienst saß auf einem Pulverfass an Informationen über die schwerbewaffnete hessische Neonaziszene. Im Geheimbericht sind dennoch etliche Fälle nicht aufgeführt, in denen sich Neonazis auf legalem Weg Schusswaffen beschafften und an diesen ausbildeten. Ihre Zugehörigkeit zu Schützenvereinen, Bundeswehr und Reservisten-Kameradschaften wurde entweder nicht systematisch untersucht oder es wurden diesbezügliche Informationen zurückgehalten oder geschwärzt. Etwa 40 Prozent der Meldungen des Geheimberichts betreffen Hinweise zu Waffen- und Sprengstoffbesitz von Neonazis. Es sind mehrere hundert Fälle ersichtlich und noch viel mehr dürften in den geschwärzten Passagen stecken.
Beispielhaft ist eine Meldung, die offensichtlich aus dem Jahr 2011 stammt:
„[geschwärzt] Waffendepots im Raum FFM, Aufbau einer kämpferischen Zelle {Patrick W.} soll Waffen besitzen {Wolfgang L.} soll Schusswaffe besitzen {Nico M.} soll Zugang zu Schusswaffen haben [geschwärzt] will sich Schusswaffe besorgen [geschwärzt] soll Schusswaffe besitzen {Guido W.} soll Schusswaffen besorgen können {Jörg K.} soll Zugang zu Schusswaffen haben Bruder von {Sebastian W.} soll Schusswaffen besorgen können {Günter U.} soll Schusswaffe besitzen“. (Personen durch die Verfasser*innen anonymisiert)
Ein Dutzend dieser Meldungen über Bewaffnung, Schießtrainings im Ausland und Sprengstoffbeschaffung betreffen den hochgradig gefährlichen Neonazi Marcel Wöll, der in den 2000er Jahren u.a. Landesvorsitzender der NPD war. Wölls Kontaktdaten fanden sich 2011 im Handy des NSU-Unterstützers Ralf Wohlleben.
Einem Großteil der Meldungen über Waffen und Sprengstofffunde, die offensichtlich aus „Kontaktgesprächen“ (also von V-Personen) stammen, ist man damals nicht nachgegangen. Trotzdem gibt die Behörde folgende abschließende Bewertung: „Es fanden sich keine Hinweise auf oder Informationen zu einem terroristischen Verhalten von Rechtsextremisten.“ An anderer Stelle heißt es: „Der größte Teil dieser Belege mit Bezug zu szenetypischen Aktivitäten beinhalteten Hinweise auf einen legalen oder illegalen Waffen- oder Sprengstoffbesitz von Rechtsextremisten (etwa 40% der Belege); Information zu einem gewaltorientierten Verhalten dieser Personen fanden sich parallel dazu nicht.“
Die Aussage verdeutlicht, wie der hessische Inlandsgeheimdienst neonazistische Ideologie, eine Aufrüstung und die daraus resultierende Gefahr verharmlost. Wenn der Geheimdienst nicht einmal in der Beschaffung von Schusswaffen und Sprengstoff ein „gewaltorientiertes Verhalten“ erkennen will, darf es nicht verwundern, dass es unter den Augen der Behörde nach wie vor zu rechten Morden und Anschlägen kommt.
Der Bericht zeigt, dass dem Geheimdienst eine erschreckende Menge von Informationen über schwer bewaffnete Neonazis in Hessen vorlag. Hinzu kommen zahlreiche weitere Fälle aus öffentlich zugänglichen Quellen, die jedoch nicht im Geheimbericht erwähnt werden.
Neonazis in Schützenvereinen
Neonazis nutzen alle Möglichkeiten an Schusswaffen zu gelangen und an diesen zu trainieren. Eine legale Variante ist es in Schützenvereinen einzutreten. Gemessen daran ist es unverständlich, dass sich im Geheimbericht nur wenige Meldungen über Neonazis in derartigen Vereinen finden. Die tatsächliche Zahl von hessischen Neonazis in Schützenvereinen war und ist um ein Vielfaches höher als die, über die der Inlandsgeheimdienst zu berichten weiß.
Ein anschauliches Beispiel liefert der Schützenverein «Hubertus e.V. 1928 Frohnhausen» in Dillenburg (Lahn-Dill-Kreis). Hier waren Ende der 2000er Jahre mehrere junge Neonazis Mitglied. Sie nahmen an Schießübungen und Schießwettbewerben teil und richteten sich in «Achims Kneipe» im Schützenhaus einen Treffpunkt ein. Ein Foto, das der Dillenburger Neonazi Patrick M. im Jahr 2009 auf seinem Profil in einem Sozialen Netzwerk online stellte, zeigt eine Tischrunde von Neonazis in der Vereinskneipe. Eine Person, die ihren Rücken zur Kamera richtet, trägt ein Shirt mit der Aufschrift „Hunting Season“ (Jagdsaison). Das Motiv des Shirts zeigt weiß gezeichnete Menschen, die Schusswaffen auf Menschen richten, die schwarz gezeichnet sind. Es sind Fantasien rassistischer Menschenjagden und Erschießungen, eine „Gewaltorientierung“ wie sie offener kaum gezeigt werden kann. Im Jahre 2012 – drei Jahre nachdem Patrick M. dieses Bild veröffentlicht hatte und zwei Jahre nachdem es in der antifaschistischen Publikation „Dunkelfeld. Rechte Lebenswelten in Rhein-Main“ abgedruckt worden war – prüfte die Waffenbehörde die Waffenerlaubnis für den (mittlerweile) polizeibekannten Neonazi, gegen den mehrere Ermittlungsverfahren liefen. Das Resultat: Patrick M. durfte seine Waffenbesitzkarte und seine Schusswaffen behalten. Der hessische Inlandsgeheimdienst gab zu dieser Zeit vor, keine Erkenntnisse über Patrick M. zu haben.
Über den Neonazi Thorsten März, damals wohnhaft in Eppstein (Taunus), heute wohnhaft in Nordrhein-Westfalen, heißt es im Bericht in einer undatierten Meldung: „Hinweis auf Sportwaffen und Waffenbesitz. März soll in Kontakt zu Frank Rennicke gestanden haben, der nach Aussagen des Hinweisgebers Kontakt zum Zwickauer ‚Nazi-Trio’ gepflegt habe. Keine Unterrichtung der BAO im BKA.“ Aus einer weiteren Meldung geht hervor, dass es einen Ermittlungsbericht zu Thorsten März gab. Doch nirgendwo findet sich ein Hinweis, dass März als Mitglied eines Schützenvereins festgestellt wurde und dass er an Schießtrainings teilnahm. Bilder davon hatte März im Jahr 2008 über sein persönliches Profil im Netzwerk „wer-kennt-wen“ selbst veröffentlicht.
Robert Janietz aus Eppertshausen (Landkreis Darmstadt-Dieburg) war Mitte der 2000er Jahre eine führende Figur einer Struktur gewesen, die als «Blood & Honour Südhessen», «Division 28 Südhessen» und «Combat 18 Südhessen» auftrat. 2007 wurde öffentlich, dass er rechtlich Verantwortlicher des Neonaziversands «Streetfight-Records», einem Unternehmen der «Division 28 Südhessen», ist. Eine simple Internet-Recherche brachte 2011 die Erkenntnis, dass Janietz zu dieser Zeit Mitglied im Schützenvereins «Tell Froschhausen 1907 e.V.» in Seligenstadt im Landkreis Offenbach war. Er gehörte dem Team der Pistolenschützen an und ist auf der Internetseite mit vollem Namen erwähnt und mit Foto abgebildet. Im Geheimbericht wird er, obwohl weitere Informationen öffentlich vorlagen, nur in einer Meldung aus dem Jahr 2008 genannt, aus der lediglich hervorgeht, dass ihn der Geheimdienst «Blood & Honour» zurechnete. Weitere Informationen, seine Vernetzungen, die Mitgliedschaft im Schützenverein etc. finden sich im Geheimbericht nicht.
Alfred Horst – Mordfantasien eines Schützenmeisters
Alfred Horst aus Lohra bei Marburg ist seit den 1980er Jahren ein führender Neonazi im Raum Marburg. Er war langjähriger Vorsitzender des NPD-Kreisverbands Marburg-Biedenkopf und trat für die Partei mehrfach zu Wahlen an.
Über Horst befinden sich im Geheimbericht mehrere detaillierte Meldungen. Denn der hessische Inlandsgeheimdienst hat(te) offensichtlich in seinem unmittelbaren Umfeld eine V-Person platziert, die den Dienst mit Informationen über Horst versorgt(e). Dessen Meldungen reichen von 1994 bis 2001. Darin heiß es unter anderem, Horst „sei Mitglied eines Schützenvereines und besitze rechtmäßig Schusswaffen. Sollten ‚Linke’ seine Wohnung stürmen, werde er erst dem Eindringling einen (Kopf-) Schuss verpassen und dann in die Decke schießen. Gegenüber der Polizei werde dann angegeben, er hätte erst einen Warnschuss in die Decke abgegeben und danach in Notwehr auf den Eindringling geschossen.“ Aus dem Jahr 1998 stammt die Notiz, Horst habe „im volltrunkenen Zustand geäußert, der er keine Schau habe Personen zu töten, die ihm schaden wollten. Horst sei in der Szene als Choleriker und Waffennarr bekannt.“ Ebenfalls 1998 wird dem hessischen Inlandsgeheimdienst berichtet, „dass Horst im Rahmen einer Demonstration in Bonn gegenüber Polizisten gedroht habe, sie mit einer mitgeführten Schusswaffe niederzuschießen. Er führte jedoch keine Schusswaffe mit sich und wurde daher nur kurzzeitig festgenommen.“ (Fehler im Original). Im Jahr 2000 soll Horst sein Interesse bekundet haben, an einer Wehrsportübung in Dänemark teilzunehmen.
An keiner Stelle ist bemerkt, ob Horst tatsächlich Mitglied in einem Schützenverein ist. Die regionale Tageszeitung Oberhessische Presse war und ist auskunftsfreudiger. So vermeldet die Zeitung am 12. Februar 2009 und am 9. Februar 2011 in Artikeln, dass Alfred Horst seinen Schützenverein «Subach Lohra» bei den Schützen-Landesmeisterschaften vertrat.
Am 15. Januar 2013 erschien die Waffenbehörde bei Alfred Horst zu einer unangekündigten Kontrolle. Doch der war nicht zu Hause. So meldete die Behörde den nächsten Termin bei Horst an und als sie acht Tage später seine Waffen kontrollierte, gab es – wenig überraschend – keine Beanstandungen. Auch für Sprengstoff, den er fachgerecht im Keller aufbewahrte, konnte Horst eine Erlaubnis vorweisen. Vermutlich ist Horst bis heute im Besitz von Schusswaffen. Im Mai 2022 wurde er von seinem Schützenverein «Subach Lohra» für 20 Jahre Mitgliedschaft geehrt.
Untergrundkonzepte im Forum des «Freien Widerstands Kassel»
Das Internetforum des «Freien Widerstands» ist im Geheimbericht nicht ein einziges Mal als Quelle erwähnt. In diesem Forum hatten Neonazis in einem vermeintlich internen, geschützten Raum kommuniziert. Die Plattform wurde im Herbst 2005 gehackt, der Inhalt wurden von antifaschistischen Gruppen und Journalist*innen ausgewertet – jedoch offensichtlich nicht vom hessischen Inlandsgeheimdienst.
So tauschten sich in dem Forum im Jahr 2005 drei Neonazis aus dem Rhein-Main-Gebiet über Konzepte des „Leaderless Resistance“ aus. Die Personen gaben an, in Mainz, Frankfurt am Main und Grävenwiesbach (Taunus) zu wohnen. Ihre Beiträge strotzten vor rassistischen und sexistischen Gewalt- und Vernichtungsfantasien. Die Person aus Grävenwiesbach schrieb, sie habe sich bei der Bundeswehr verpflichtet und müsse deswegen nach außen still halten.
Auch findet sich im Geheimbericht kein Hinweis auf die Person, die in dem Forum des «Freien Widerstands» seit April 2005 unter dem Pseudonym „Stadtreiniger“ schrieb. Die Person diskutierte Untergrundkonzepte und Möglichkeiten, sich über das Ausland Schusswaffen zu beschaffen. Auch fantasierte sie darüber, dass es „wieder eine Reichskristallnacht geben“ solle. Im August 2007 wurde „Stadtreiniger“ von den Journalisten Joachim F. Tornau und Carsten Meyer in einem Artikel in der Frankfurt Rundschau („Stadtreiniger verbreitet braunen Schmutz“) enttarnt: Es handelte sich um Markus Hartmann aus Kassel, damaliges Mitglied der Neonazigruppe «Freier Widerstand Kassel» und wegen neonazistischer Taten vorbestraft. Seine E-Mail Adresse war „kalashnikov-76“ (Hartmann ist 1976 geboren). Doch obwohl Hartmann ein Thema in der überregionalen Presse gewesen war – im Geheimbericht gibt es zu ihm keinen offen lesbaren Eintrag.
Im Juni 2019 geriet Markus Hartmann in die bundesweiten Schlagzeilen. Nach dem Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke hatte dessen Mörder Stephan Ernst ausgesagt, die Tat gemeinsam mit Hartmann begangen zu haben. Auch hatte Hartmann Ernst das Schießen beigebracht (siehe: Mordfall Lübcke).
Neonazis in Bundeswehr und Reservisten-Kameradschaften
Über Neonazis in der Bundeswehr gibt der hessische Inlandsgeheimdienst in seinem Geheimbericht nichts preis. Der Begriff „Bundeswehr“ taucht in dem gesamten Dokument nur dreimal auf. Zum Ersten in Zusammenhang mit einer „wehrsportähnlichen Übung“ einer Neonazigruppe auf einem „alten Bundeswehrgelände“. Zum Zweiten bei der Beschreibung eines Wehrsport-Trainings von Neonazis 2003 im Spessart, bei dessen polizeilicher Auflösung unter anderem ein „gestohlener Bodenfeuchtkörper der Bundeswehr“ sichergestellt wurde. Zum Dritten in einer Meldung aus dem Jahr 2009 über einen Neonazi, der an „an einer Schießausbildung einer Reservistenvereinigung der Bundeswehr teilgenommen habe“.
Obwohl der Themenkomplex „Neonazis in der Bundeswehr“ in erster Linie zum Aufgabenbereich des Militärischen Abschirmdienst (MAD) gehört, sollte der hessische Inlandsgeheimdienst bei der Prüfung der Akten explizit auch auf legalen Besitz von Waffen und Zugehörigkeit zur Bundeswehr achten: „Hinweise auf Waffenbesitz (legal oder illegal) oder deren Lagerung in Waffendepots, Waffenkenntnisse, Schießübungen, Kenntnisse über die Arbeit mit Sprengstoffen oder Beschaffung von Sprengstoffen. In diesem Zusammenhang ist wichtig darauf zu achten, ob die entsprechende Person durch berufliche Aktivitäten (Bundeswehr, Sicherheitsdienst), durch Freizeitaktivitäten (z.B. Jagd, Schützenverein) oder durch Eigeninitiative illegal die Kenntnis oder Waffe erlangt hat.“
So hätte man davon ausgehen müssen, dass die Zugehörigkeit von Neonazis zur Bundeswehr ein gewichtiger Punkt des Berichts sein würde. Denn über die Bundeswehr erhalten Neonazis seit Jahrzehnten eine Ausbildung an Schusswaffen, in militärischen Techniken und ggf. auch im Umgang mit Sprengstoff. Für Neonazis war es zu Zeiten der Wehrpflicht ein Muss, zur Bundeswehr zu gehen. Allein aus der Kommunikation in neonazistischen Foren und Sozialen Netzwerken lassen sich von Mitte bis Ende der 2000er Jahre mehrere Dutzend Neonazis aus und in Hessen herausfiltern, die zu dieser Zeit in der Bundeswehr waren oder ihren Wehrdienst erst kürzlich abgeleistet hatten. Viele von ihnen veröffentlichten Fotos, die ihre Zugehörigkeit zur Bundeswehr belegen, einige nahmen auch an Auslandseinsätzen teil.
Andreas W. aus Budenheim bei Mainz gehörte in den frühen 1990er-Jahren der organisierten Neonaziszene von Wiesbaden an. Bis 1997 kann er als Teilnehmer neonazistischer Aufmärsche festgestellt werden. Private Bilder, die er 2008 in einem Sozialen Netzwerk veröffentlichte, zeigen ihn im Kreis von Neonazis aus dem hessischen Wetteraukreis. Als Hobby gab Andreas W. 2008 auf „wer-kennt-wen“ an: „Kameradschaft pflegen, RK-Kur Mainz Kaserne, Schießen“.
Andreas W. war für die Bundeswehr in Afghanistan im Einsatz. Auf einem Foto ist er in einer Gruppe von Bundeswehrsoldaten zusammen mit den Neonazis Marco Bock aus Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz) und Alexander S. aus Bad Nauheim (Hessen) zu sehen. Das Foto war laut eines Kommentars im Jahr 2006 auf einer Bundeswehr-Schießanlage entstanden. Marco Bock wurde in den 2000er Jahren auf Aufmärschen festgestellt, die oberste Behörde des Inlandsgeheimdienstes („Bundesamt für Verfassungsschutz“) kategorisierte ihn 2012 als einen Neonazi, bei dem Hinweise auf rechtsterroristische Ansätze zu erkennen seien. Im Geheimbericht des hessischen Inlandsgeheimdienstes bleibt der Neonazi-Freundeskreis, der sich im Internet präsentierte, ausgeblendet.
Auch weist der Geheimbericht bei lediglich drei Neonazis auf deren Mitgliedschaft in Reservistenverbänden hin. Über eine anonymisierte Person heißt es in einer Meldung von 2009, sie sei bei einer Schießausbildung einer Reservistenvereinigung dabei gewesen und würde regelmäßig an derartigen Veranstaltungen teilnehmen. Bei der Person handelt es sich offensichtlich um den Wetterauer NPD-Aktivisten Stefan Feuerbach. Der war um das Jahr 2010 von einer antifaschistischen Gruppe als Neonazi und Teilnehmer einer Reservisten-Wehrübung öffentlich gemacht worden. Die Frankfurter Rundschau (FR) hatte seinen Fall in einem Artikel im Februar 2012 („Rechtsradikale an der Waffe“) beschrieben. Der Inlandsgeheimdienst hat in diesem Fall nur anonymisiert wiedergegeben, was bereits öffentlich bekannt war. Laut des Artikels der FR hatte der hessische Reservistenverband ein Ausschlussverfahren gegen Feuerbach und einen weiteren erwähnten Neonazi eingeleitet.
Die FR zitierte dazu den Landesvorsitzenden des Verbandes, wonach eine Zugehörigkeit beispielsweise zur NPD ein „Verstoß gegen den Unvereinbarkeitsbeschluss des Verbandes“ sei. Tatsächlich wurden in den vergangen Jahren einige hessische Neonazis aus Reservistenverbänden ausgeschlossen, andere jedoch nicht. So blieb der Hammerskin Daniel Orlewicz bis nachweislich 2017 Mitglied einer Reservisten-Kameradschaft. Daniel Orlewicz hatte in den 2000er Jahren in der Bundeswehr „gedient“. Zu jener Zeit reiste er u.a. zum Gedenkmarsch für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß nach Wunsiedel. Als Obergefreiter der Reserve und Mitglied der Reservisten-Kameradschaft Marbach nahm er im Jahr 2017 an einem militärischen Wettkampf auf einem Truppenübungsplatz in Unterfranken teil. Ein Artikel hierzu („Trätzhofmarsch – Marbacher Reservisten auf Platz zwei und vier“) inklusive Foto von Orlewicz findet sich in einer lokalen Online-Zeitung.
Auch über den nordhessischen NPD-Funktionär David Rose findet sich im lesbaren Teil des Geheimberichts kein Wort, obwohl 2011 öffentlich wurde, dass er und weitere Neonazis des «Freien Widerstands Kassel» in einer Reservisten-Kameradschaft aktiv waren. Rose war zu diesem Zeitpunkt Obergefreiter der Reserve und bereits durch „gewaltorientiertes Verhalten“ aufgefallen. Mit dem Lübcke-Mörder Stephan Ernst beteiligte er sich am Angriff von Neonazis auf eine Gewerkschaftsdemonstration in Dortmund 2009. Rose wird seit vielen Jahren bei Veranstaltungen im Kreis von Thorsten Heise festgestellt. So nahm er beispielsweise 2011, ebenfalls mit Ernst, an einer Sommersonnenwendfeier von Heise teil. Im selben Jahr wurde in einem Auto, das Rose zugerechnet werden kann, Material der «Arischen Bruderschaft» gefunden und er fungierte als Ordner auf dem von Heise ausgerichteten „Eichsfeldtag“. Über die Jahre hinweg nahm er auch an Veranstaltungen in Fretterode teil, so 2018 bei einer „Zeitzeugenveranstaltung“ mit einem ehemaligen SS-Unterscharführer.
Der Neonazi Kai Reimund aus Südhessen gehörte Ende der 2000er Jahre einer Neonazi-Kameradschaft an und nahm an neonazistischen Aufmärschen teil. Als Bundeswehr-Soldat war er zu dieser Zeit in der KFOR-Truppe im Kosovo eingesetzt. Darüber berichtete er auf einer eigenen Homepage. Aus seiner neonazistischen Gesinnung machte er in Sozialen Netzwerken derweil keinen Hehl. Im Jahr 2010 wurde er von Antifaschist*innen als Neonazi und Militärangehöriger öffentlich gemacht. Ein Bild zeigt ihn mit der neonazistischen Bekleidungsmarke «H8 Wear». Doch auch zu Reimund gibt es keine lesbaren Einträge im Geheimbericht.
Der Neonazi Gordon Eberhard aus Bad Nauheim (Wetteraukreis) befindet sich auf der Liste der 77 Personen, die im Besonderen geprüft werden sollten. Eberhard ist im Geheimbericht sechs Mal genannt, in einer Meldung aus dem Jahr 2012 heißt es kryptisch: „Eberhardt, Gordon, Foto mit Waffen, kein Paintball bzw. Show/Display“ (Fehler im Original). Unerwähnt bleiben jedoch Eberhards Dienst in der Bundeswehr sowie seine Aktivitäten in einer Airsoft-Gruppe. 2008 war er nach eigener Angabe „Soldat im 7./SanRgt 22 in der Westfalenkaserne in Ahlen“. Auch war er seit spätestens 2011 Mitglied einer Gruppe, die sich «HTSE» nannte. Die Gruppe führte im militärischen Outfit Wehrübungen (sie selbst nennen es „Geländespiele“) in Wäldern und leerstehenden Fabrikhallen durch. Auf Fotos, die um das Jahr 2010 öffentlich wurden, sind nachgebaute Militärfahrzeuge mit Gefechtsstand zu sehen, die offensichtlich bei den Trainings zum Einsatz kamen. Auch darüber findet sich im Bericht kein Wort.
Kapitel 3: Ungeklärte Fälle
Der Geheimbericht zeigt, dass Behörden sich verweigern, wenn es um Erkennen und Aufklärung neonazistischer Gewalt geht. Der Geheimbericht geht nicht auf versuchte Mordanschläge ein, die in den 2000er Jahren in Hessen von Neonazis begangen wurden oder diese als Täter nahelegen.
Eine bis an die Zähne bewaffnete Neonaziszene, die aber laut Geheimdienst kein gewalttätiges Verhalten zeigt. Was sich mit den Aufklärungsversuchen im NSU-Komplex offenbarte, lässt sich in Hessen anhand weiterer Fälle belegen: Behörden verweigern sich, wenn es um Aufklärung neonazistischer Gewalt geht. Der Geheimdienst stellt den Quellenschutz über Aufklärung und Opferschutz. Die Vorstellung, Neonazis würden die Waffen, die sie horten, nicht benutzen, führt zu einer gefährlichen Unterschätzung der Bedrohung durch rechte Gewalt und zur Verharmlosung der Szene, die sich auch bei den Ermittlungsbehörden fortsetzt.
Betroffene werden nicht ernst genommen oder werden gar selbst verdächtigt. Im Folgenden werden drei Beispiele versuchter Mordanschläge auf Linke aus Frankfurt und Kassel Anfang der 2000er Jahre skizziert, die im Bericht gänzlich unerwähnt sind. TäterInnen wurden bei keinem der Fälle ermittelt.
Ein Sprengsatz an einem Auto in Frankfurt im Jahr 2000
In den ersten Septembertagen im Jahr 2000 wurde einem Antifaschisten in Frankfurt am Main ein Explosivstoff am Auspuff seines Wagens befestigt. Am 3. September war er mit seiner Familie bereits über 100 Kilometer unterwegs gewesen, als die Manipulation am Auspuff entdeckt wurde. Nur durch einen glücklichen Zufall war es nicht zu einer Explosion gekommen, die das Auto nach Ansicht eines von der Polizei hinzugezogenen Experten „mehrfach zerfetzt“ hätte. Daran, dass die Tat von Neonazis begangen wurde, konnte es nie einen Zweifel geben. Der Fall ist detailliert beschrieben in der 20-seitigen Publikation „Vertuscht und Verschwiegen“, die Antifaschist*innen im Jahr 2015 veröffentlichten.
Obwohl es sich bei dieser Tat um einen versuchten Mordanschlag auf drei Menschen handelte, wurde das Ermittlungsverfahren schon nach wenigen Monaten eingestellt. Die Verantwortlichen in der Frankfurter Staatsanwaltschaft und im Polizeilichen Staatsschutz in Frankfurt hatten nicht wegen eines versuchten Tötungsdelikts, sondern nur wegen eines Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz ermittelt.
Schüsse auf Linke in Kassel 2001 und 2003
Am 20. Februar 2003 schossen Unbekannte in Kassel durch das Fenster eines damals 48-jährigen Lehrers, der sich über Jahre öffentlich gegen Rechts engagiert hatte. Die Kugel aus einer großkalibrigen Waffe verfehlte nur knapp seinen Kopf. Er habe den Lufthauch gespürt, sagte der Betroffene der Zeitung. Neonazis aus Kassel hatten im Rahmen von von sogenannter Anti-Antifa-Arbeit Daten über ihn gesammelt. Der Fall ist beschrieben in dem Artikel „Eine Hinrichtung“ in der antifaschistischen Zeitschrift Lotta vom Juli 2019.
Schon eineinhalb Jahre zuvor hatte es in Kassel einen versuchten Mordanschlag gegeben, bei dem das rechte Motiv auf der Hand lag. Am Abend des 6. August 2001 wurden Schüsse auf Personen abgefeuert, die sich auf dem Gelände eines linken Wagenplatzes in Kassel aufhielten. Der Wagenplatz befand sich auf einem Gelände an der Fulda, die Geschosse des Kalibers 9 mm wurden vom anderen Ufer abgegeben. Da die Anwesenden sofort die Gefahr wahrnahmen und nach dem ersten Schuss in Deckung gingen, wurde glücklicherweise niemand durch weitere Schüsse getroffen. Der Fall ist nachzulesen in dem Artikel „Blickpunkt Kassel: Alte Fälle, neue Fragen“ bei NSU-Watch. In diesem Fall ist kein Ermittlungsvorgang festzustellen, der einem versuchten Tötungsdelikt angemessen gewesen wären. Die Spurensuche war mangelhaft, die Betroffenen wurden weder genau befragt noch wurden sie über den Stand der Ermittlungen unterrichtet. Die Beweismittel waren im Jahr 2019, als der Fall im Zusammenhang mit dem Mord an Walter Lübcke wieder thematisiert wurde, bereits vernichtet. Darunter waren Patronenhülsen, die ein Bewohner selbst aufgesammelt und zur Polizei gebracht hatte. Auch hat die Polizei niemals einen Zusammenhang zwischen den beiden Taten hergestellt.
Dass diese Mordanschläge in dem Geheimbericht unerwähnt sind, ist umso grotesker, da sich darin Meldungen über den Aufbau einer neonazistischen „Untergrundorganisation“ in Kassel ab den 1990er Jahren finden. Daraus wird klar: Der Inlandsgeheimdienst wusste – ganz offensichtlich über V-Personen – über die bewaffnete Kasseler Szene Bescheid und auch darüber, „dass in Kassel ein ‚nationaler Untergrund’ existiert, der Aktionen plant.“ Als jedoch in den Jahren 2001 und 2003 Mordversuche auf Linke verübt und 2006 in Kassel der NSU Halit Yozgat aus rassistischen Motiven ermordete, wollten die Behörden keine Spuren finden, die nach Rechts führen. Die militante Neonaziszene in Kassel konnte unbehelligt weitermachen wie bisher.
Kapitel 4: Mordfall Lübcke
Mit einer Geheimhaltungsfrist von 120 Jahren sollte in erste Linie die eigene Unfähigkeit vertuscht werden. Dass der Geheimdienst weder lernfähig noch reformierbar ist – sondern brandgefährlich – zeigte auch der Mord an Walter Lübcke im Jahr 2019.
In einem Kapitel des Berichts beschreibt der Geheimdienst festgestellte Mängel in der Arbeitsweise und formuliert Reformvorschläge. Man gelobt Besserung, will Akten gründlicher führen, an Qualitätssicherung und Analysefähigkeit arbeiten und die Behörde in ihren Abläufen transparenter gestalten. Diese Beteuerungen waren fortan die Erzählung für die Öffentlichkeit. So konnten Geheimdienst und Landesregierung Kritik begegnen, da Fehler eingesehen worden seien und in der Zukunft nicht mehr passieren könnten. Außerdem konnte damit ein Ausbau der Geheimdienst-Behörde gerechtfertigt werden, der falschen Logik folgend, dass diese mit mehr finanziellen Mitteln, aufgestockten Personal und erweiterten Befugnissen effizienter arbeiten würde. Obwohl der Bericht die haarsträubende Arbeitsweise und das daraus resultierende Totalversagen des Geheimdienstes offenlegt, ging die Behörde gestärkt daraus hervor. Doch an den eigenen Maßstäben gemessen: Jahre nach der angeblichen Reformierung ist die Behörde nicht in der Lage, einen brandgefährlichen Neonazi zu erkennen, selbst wenn es rot markiert auf der Akte steht und nachdrücklich drauf verwiesen wird. Nicht etwa weil sie nicht genug Informationen hätten, sondern weil sie militante Rechte nach wie vor als Randphänomen begreifen und Rassismus in seiner politischen Dimension ausblenden.
Stephan Ernst und Markus Hartmann
Am Abend des 2. Juni 2019 erschoss der Kasseler Neonazi Stephan Ernst den nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Während die Behörden noch herumlavierten, machte antifaschistische Recherche kurz nach der Festnahme des Mörders öffentlich, dass es sich bei diesem um einen bekannten Neonazi handelt.
Die Behörden verkündeten, man hätte die Tat nicht verhindern können, da Ernst seit 2009 „abgekühlt“ gewesen und von ihrem Radar verschwunden sei. Ernst hatte 1992 einen Imam niedergestochen und 1993 einen Sprengsatz bei einer Unterkunft von Geflüchteten platziert, der darauf ausgerichtet war, Menschen zu töten. Dafür hatte er mehrere Jahre in Haft gesessen. Dies veranlasste zumindest den damaligen Verfassungsschutz-Präsidenten Alexander Eisvogel noch 2009 Ernst als „brandgefährlich“ einzuschätzen, was er mit Rotstift auf einer Akte vermerkte. Dennoch wurde 2015 die Akte Stephan Ernst im hessischen Geheimdienst für den Dienstgebrauch aus Datenschutzgründen gesperrt. Mal wieder eine fatale Fehleinschätzung. Erneut eine mit tödlichen Konsequenzen.
Eine Mitarbeiterin des hessischen Geheimdienstes berichtet vor dem Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke, dass sie versucht habe, dies zu verhindern. Sie beteuerte, sie habe sogar einen Aktenvermerk erstellt und davor gewarnt die Akte zu sperren.
Im Abschlussbericht des hessischen Geheimdienstes von 2014 sind vier Einträge zu Stephan Ernst lesbar, sein Name wird darin neun Mal genannt. Den Journalisten Dirk Laabs und Stefan Aust antwortete die Behörde 2019, dass Ernsts Name elf Mal genannt sei. Ersichtlich sind u.a. drei Meldungen der Polizei. In der einen aus dem Jahr 2003 heißt es: „Im Rahmen einer Teilnahme an einer Demo gegen die Wehrmachtsausstellung in Neumünster führt Stephan Ernst ein Wellenmesser mit sich. Er greift bei der Veranstaltung auch eine Geschädigte am Hals und würgt diese. Ernst ist als aggressiv und gewalttätig einzuschätzen. Quelle: Polizei“
Ebenso findet sich eine Auskunft aus dem Zentralregister aus dem Jahr 2000 im Bericht: „(versuchter) Sprengstoffanschlag mittels Rohrbombe auf ein parkenden PKW vor einem Asylbewerberwohnheim am 23.12.93 in Hohenstein (Rheingau-Taunus-Kreis): Stephan Ernst wird als Tatverdächtiger gefasst, gibt die Tat zu und wird letztlich zu 6 Jahren Einheitsjugendstrafe verurteilt (versuchter Totschlag, versuchte Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit Sachbeschädigung und Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie gefährliche Körperverletzung); Motiv: Ausländerfeindlichkeit, Rassismus Ernst ist in der Lage eine (Rohr)Bombe zu basteln und einen Sprengstoffanschlag durchzuführen; Ernst hatte in der Vergangenheit eine Schreckschusspistole und entsprechende Munition.“
Dass Stephan Ernst im Jahr 2011 mit anderen Kasseler Neonazis an einer Sonnenwendfeier von Thorsten Heise teilgenommen hatte und darüber ein Vermerk existierte, wurde erst 2020 im Prozess gegen ihn bekannt. Ernst hatte sich mitnichten „abgekühlt“ oder „deradikalisiert“, er lebte seine Ideologie nach seiner Festnahme 2009 allerdings in Bereichen aus, die der Geheimdienst (noch) nicht im Blick hatte. Er unterstützte die extrem rechten Organisationen «Identitäre Bewegung» und «Einprozent» mit Spenden, er ging zu Stammtischen der AfD und war für die Partei als Wahlhelfer tätig. Ernst besuchte mindestens eine Veranstaltung der Kasseler Pegida-Ablegers «Kagida». Zusammen mit seinem Freund Markus Hartmann folgte er dem rechten Aufruf, eine Bürgerversammlung in Lohfelden zu besuchen, auf der Walter Lübcke die Einrichtung einer Unterkunft für Geflüchtete vorstellte. Vor Gericht war Ernst ebenfalls wegen des Angriffs auf Ahmed I. angeklagt, einem jungen Mann, der am 6. Januar 2016 in der Nähe der Geflüchtetenunterkunft in Lohfelden von hinten niedergestochen wurde. Ernst wurde freigesprochen, weil die Blutanhaftung auf einem Messer, dass 2019 in seinem Keller gefunden worden war, nicht mehr eindeutig Ahmed I. zugeordnet werden konnte.
Der Kasseler Neonazi Markus Hartmann war in den 2010er Jahren der engste politische Weggefährte von Stephan Ernst gewesen. 2008 und 2012 beantragte Markus Hartmann bei der Waffenbehörde in Kassel eine Waffenbesitzkarte, die ihm mit Hinweis auf seine neonazistischen Aktivitäten verweigert wurde. Im Jahr 2015 gab das Verwaltungsgericht in Kassel Hartmanns Widerspruch gegen die Verweigerung der Waffenbesitzkarte statt, da die vorliegenden Erkenntnisse über seine Zugehörigkeit zur neonazistischen Szene aus den 2000er Jahren stammten und nach Ansicht des Gerichts veraltet waren. Der hessische Inlandsgeheimdienst besaß aktuellere Informationen, die er der Waffenbehörde und dem Gericht vorenthalten hatte, zum Beispiel dass Hartmann noch 2011 einen Youtube-Account mit neonazistischem Inhalt betrieb. So erhielt Hartmann 2015 eine Waffenbesitzkarte und trat einem Schützenverein bei. Jahre später brachte er Stephan Ernst in diesem Schützenverein unter und führte mit ihm Schießtrainings durch. Im Januar 2021 wurde Stephan Ernst für den Mord an Walter Lübcke zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Hartmann war in diesem Prozess vor dem Frankfurter Landgericht wegen „psychischer Beihilfe“ zu dem Mord angeklagt gewesen. Er wurde von diesem Vorwurf freigesprochen und wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Chemnitz am 1. September 2018: Die AfD hatte nach Tagen aufgeheizter Stimmung und antisemitischer und rassistischer Übergriffe in Chemnitz zu einer Demonstration aufgerufen. Zahlreiche rechte Gruppen schlossen sich an, knapp zehntausend Teilnehmende kamen zusammen. An diesem Tag wurde öffentlich ein Schulterschluss unterschiedlicher Spektren der extremen Rechten mit der AfD vollzogen. Mit dabei: Stephan Ernst und Markus Hartmann. Aus der Demonstration heraus kam es immer wieder zu rechten Angriffen. Zahlreiche Menschen wurden gejagt und verletzt. Eine Person die aus rassistischen Motiven angegriffen wurde, musste in die Notaufnahme, eine Gruppe Antifaschist*innen wartet bis heute darauf, dass einem Dutzend Neonazis, von denen sie angegriffen wurde, der Prozess gemacht wird.
Während Antifaschist*innen bereits seit 2015 vor dieser gefährlichen Melange warnten, verharmlosten die Sicherheitsbehörden die rassistische Hetze als berechtigten bürgerlichen Protest, der lediglich von einzelnen Rechten unterwandert würde. Der oberste Chef des „Frühwarnsystems“, Hans-Georg Maaßen, unterstützte die AfD erst verhalten und später offen, schützte sie vor der Beobachtung und musste schließlich deswegen seinen Posten als Präsident des „Bundesamtes für Verfassungsschutz“ räumen. Nach der Demonstration in Chemnitz leugnete er die rassistischen Übergriffe, obwohl es darüber zahlreiche Berichte gab. Er legitimierte damit den Hass, der Stephan Ernst zum Mörder werden ließ.
Kein Schlussstrich
Und auch jüngst zeigte der hessische Geheimdienst erneut wo die Schwerpunkte liegen und wo man heute mit dem vielen Geld und neuen Personal genau hin- und wo lieber wegschaut. Im aktuellen „Verfassungsschutzbericht“ für das Jahr 2021 meldete man: „Zuwächse beim Personenpotenzial gab es im Berichtsjahr etwa im Bereich Rechtsextremismus (+50) und Linksextremismus (+170).“
Kein Beobachtungsobjekt waren freilich die extrem rechten Netzwerke in Polizei und Bundeswehr, von denen in den vergangenen Jahren eins nach dem anderen bekannt wurde. Zur Erinnerung: Im Berichtszeitraum waren allein 49 Beamte des Frankfurter SEK aufgeflogen, weil sie in extrem rechten Chatgruppen aktiv waren. Im Mai 2022 kam heraus, dass sich in Hessen in den letzten Jahren 110 Polizist*innen in 67 rechten Chatgruppen strafbar gemacht hatten. Doch über die Netzwerke in den Sicherheitsbehörden findet man ebenso wenig ein Wort im „Verfassungsschutzbericht“ wie beispielsweise zu den Hammerskins.
Innenministerium und Geheimdienst in Hessen haben gelernt, die an sie gerichtete Kritik für den Ausbau ihres Apparates zu instrumentalisieren. Man blendet eine geneigte Öffentlichkeit bei jeder Gelegenheit mit Erfolgsbilanzen im „Einsatz gegen Rechts“, die nicht oder nur schwer überprüfbar sind, und verkauft die 2019 ins Leben gerufene „Besondere Aufbauorganisation Hessen Rechts“ (BAO Hessen R) als beispielhafte Kooperation zwischen Geheimdiensten und Polizei. So versucht die Landesregierung die Deutungshoheit über rechten Terror zurückzuerlangen, die ihnen mit der Aufdeckung der Skandale teilweise entglitten war.
Der geleakte Geheimbericht trägt nicht zur Aufklärung der großen Fragen im NSU-Komplex bei. Wie schon durch den NSU-Prozess deutlich wurde, ist weitere Aufklärung abseits des Staates zwingend notwendig, da u.a. die neonazistischen Strukturen von damals bis heute fortbestehen – und kein Schlussstrich gezogen werden kann.
Der Geheimbericht zeigt hingegen eindrucksvoll, dass man sich nicht auf die Angaben der Geheimdienste oder ihre Funktion als sogenanntes „Frühwarnsystem“ verlassen kann – und dass sich dies auch in der Zukunft nicht ändern wird. Engagierte Journalist*innen, Anwält*innen der Nebenklage in Verfahren gegen Neonazis, antifaschistische Recherche und Bildungsinitiativen sowie Betroffene rechter Gewalt sind vielmehr selbst in der Lage, die militante Rechte zu analysieren und ihre Gefährlichkeit zu erkennen. Sie stellen die staatliche Deutungshoheit in Frage und werden dafür häufig diskreditiert und bisweilen kriminalisiert.
Der Geheimdienst ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.