Bei den Verbrechen des «Nationalsozialistischen Untergrunds» (NSU) kommt dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel eine besondere Bedeutung zu. Denn es war ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zum Tatzeitpunkt am Tatort. Und danach hörte die rassistische „Ceska-Mordserie“, der zwischen 2000 und 2006 neun Menschen zum Opfer gefallen waren, auf. Es liegt nahe, zwischen diesen beiden Fakten einen Zusammenhang zu vermuten. Vor allem, weil der Verfassungsschützer, namentlich Andreas Temme, nach den Schüssen Hals über Kopf geflüchtet war und nachfolgend den Ermittler:innen, den parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschüssen sowie im Münchner NSU-Prozess Geschichten auftischte, die hinten und vorne nicht stimmten.
So sind zum Mord an Halit Yozgat noch viele Fragen offen. Nur durch investigative und antifaschistische Recherchen kommen immer wieder neue Fakten ans Licht, die von den ermittelnden Behörden bis dato „übersehen“ oder unterschlagen wurden. Beispielhaft für die Versäumnisse und Vertuschungen stehen drei Personen aus der Kasseler Neonaziszene, die mit Halit Yozgat oder dem Tatort in Verbindung standen und zu denen sich keine oder nur spärliche Ermittlungen finden.
So wohnte M. K. zum Zeitpunkt des Mordes zwei Häuser neben dem Internetcafé, in dem Halit Yozgat erschossen wurde. M. K. war zu dieser Zeit als neonazistischer Gewalttäter bekannt. In einem Gespräch, das Antifaschist:innen im Januar 2020 mit ihm führten, betonte er, er sei niemals von einer Behörde („obwohl ich genau nebenan gewohnt habe“) auf den Mord an Halit Yozgat angesprochen worden.
Der Kasseler Neonazi Markus Hartmann hatte Halit Yozgat persönlich gekannt. Er war 2006 von der Polizei vernommen und nach vier kurzen Fragen und Antworten für „nicht weiter relevant“ befunden worden. Hartmann wird heute vorgeworfen, beim Mord an Walter Lübcke Beihilfe geleistet zu haben. Corryna Görtz, eine Neonazistin aus dem militanten Kern der Kasseler und Thüringer Szene, gab 2017 in einer Befragung vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss an, wenige Monate vor dem Mord mehrfach das Internetcafé von Halit Yozgat besucht zu haben. Görtz war sehr wahrscheinlich mit Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe bekannt gewesen. Dennoch fand sich auch zu ihr bis dahin kein nennenswerter Ermittlungsstrang.
Bei allen dreien stellen sich die Fragen: Kann polizeiliches Handwerk tatsächlich so miserabel sein? Oder wurden die Ermittlungen auch zu diesen drei Personen gebremst? Oder wurden Erkenntnisse und Ermittlungsergebnisse den Gerichten und Untersuchungsausschüssen vorenthalten, was einer Vertuschung gleich kommt?
Markus Hartmann, Corryna Görtz und M. K. sind bzw. waren Teil einer Kasseler Neonaziszene, die stets überschaubar war, doch immer ihre Organisierungs- und Erlebnisräume hatte: In Fußball- und Eishockey-Stadien, in Rocker-Clubhäusern und in diversen Kneipen. Ihr harter Kern bestand aus einigen Dutzend Personen und war, wie heute nachzuvollziehen ist, von Spitzeln der Geheimdienste durchdrungen. Dennoch – oder gerade deswegen – konnte die Kasseler Szene eine mörderische Dynamik entfalten. Das letzte Opfer war am 2. Juni 2019 der nordhessische Regierungspräsident Walter Lübcke.
Neonazi und Nachbar von Halit Yozgat
Der 1979 geborene M. K. fiel um die Jahrtausendwende erstmals im Kasseler Raum als Neonazi auf. Am 18. Juni 2000 zählte er zu einer Gruppe von Neonazis, die bei einer Kirmes-Veranstaltung im nordhessischen Hofgeismar aus einem rassistischen Motiv auf Menschen einprügelten. Spätestens seit diesem Vorfall war er als rechter Gewalttäter aktenkundig. K. gehörte unter anderem den «Ice-Boys» an, einem Eishockey-Fanclub, der personell mit der neonazistischen Kameradschaft «Gau Kurhessen» verflochten war. M. K. erzählt, er sei auch mit Stephan Ernst bekannt gewesen, dem mutmaßlichen Mörder von Walter Lübcke.
Anhand einer polizeilichen Personen- und Fahrzeugkontrolle lässt sich nachvollziehen, dass M. K. und Stephan Ernst am 25. August 2002 in Dransfeld bei Göttingen wahrscheinlich zusammen unterwegs gewesen waren. Für diesen Tag war in Dransfeld eine Demonstration der Jugendantifa angekündigt gewesen, die kurzfristig abgesagt worden war. Einige Neonazis waren dennoch angereist, vermutlich hatten sie die Absage nicht mitbekommen und geplant, Antifaschist:innen zu provozieren oder anzugreifen. Augenzeugen berichteten über zirka ein Dutzend Neonazis, die an diesem Tag in der Stadt nach Antifaschist:innen suchten. Zehn von ihnen wurden von der Polizei kontrolliert und erhielten Platzverweise. Die Polizist:innen notierten den Namen von M. K., sein Geburtsdatum und seine Adresse: „Holländische Str. 86 in 34117 Kassel“. Keine 30 Meter weiter, in der Holländisches Straße 82, eröffnete im Frühjahr 2004 der 19-jährige Halit Yozgat ein Internetcafé. Am 6. April 2006 wurde er dort von den Mördern des NSU erschossen. Zum Zeitpunkt der Tat wohnte M. K. noch in der Holländischen Straße 86, er selbst gibt an, 2006 oder 2007 von dort weggezogen zu sein. Er sagt, er habe Halit Yozgat nicht gekannt und sei zum Zeitpunkt der Tat nicht in der Nähe des Tatorts gewesen.
Keine Ermittlungen zu M. K. festzustellen
Auf M. K. stieß die Mordkomission spätestens 2008, als sie das Umfeld des Verfassungsschutz-Mitarbeiters Andreas Temme überprüfte. Eine ihrer Arbeitshypothesen war, dass Temme einer Gruppe angehört haben könnte, die die Mordserie begangen hatte. Die Ermittler:innen analysierten dazu das Umfeld von Benjamin Gärtner, einem Neonazi der Kasseler Szene und V-Mann, den Andreas Temme geführt hatte. Gärtner hatte spätestens seit Anfang der 2000er Jahre als „GP 389“ (GP steht für Gewährsperson) Temme über die Neonaziszene im Raum Kassel berichtet. In einer Personenliste der «Ice-Boys», die Temme mutmaßlich vorlag und auf die Angaben von Gärtner zurück geht, sind sowohl Gärtner als auch M. K. namentlich genannt. Gärtner war zudem, wie auch M. K., am 18. Juni 2000 am rassistischen Angriff in Hofgeismar beteiligt.
Temme ist unzweifelhaft der Schlüssel zum Kasseler NSU-Mord, denn er war vor Ort, als Halit Yozgat erschossen wurde. Mit Gärtner hatte er knapp eine Stunde vor dem Mord ein ungewöhnlich langes Telefonat geführt und sich wenig später zum Internetcafé von Halit Yozgat aufgemacht. So überprüfte die Polizei welche Bekannten von Gärtner Verbindungen zum Tatort in Kassel und zu anderen NSU-Tatortstädte aufwiesen. Dabei stießen sie auf M. K., da dessen Handy in den Tagen des Mordes an Halit Yozgat in der Funkzelle des Tatorts eingeloggt war. In einem Bericht führen die Ermittler:innen die „Treffer“ zu mehreren Personen aus, die ebenfalls im Raster hängen geblieben waren, und erklären, warum sie bei diesen Zusammenhänge mit den Morden aus schlossen. Doch zu M. K. ist in dem Bericht außer seinem Namen, seinem Geburtsdatum und den Hinweis auf den Funkzellen-Treffer nichts zu finden. Nicht einmal seine Adresse in der Holländischen Straße 86 ist genannt.
Es ist überaus brisant, dass eine Person aus dem politischen Freundeskreis von Benjamin Gärtner in unmittelbarer Nachbarschaft des Tatorts wohnte. Vor allem, da es die Umstände der rassistischen Mordserie vermuten lassen, dass der NSU in den Städten der Morde HelferInnen hatte. Dies betraf insbesondere Kassel. In der Zwickauer Wohnung von Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos war eine Skizze des Internetcafés von Halit Yozgat gefunden worden, was zeigt, dass dieses im Vorfeld ausgekundschaftet worden war, möglicherweise von lokalen Neonazis. Alleine die Tatsache, dass M. K. neben dem Tatort wohnte, stellt ihn nicht unter den dringenden Verdacht, ein Helfer des NSU gewesen zu sein. Aber er wäre zumindest ein wichtiger Zeuge gewesen.
M. K. hätte den Ermittler:innen mehrfach auffallen und entsprechende Ermittlungsvorgänge in Gang setzen müssen: In der Tatort-Funkzellenabfrage, in einer erweiterten Tatortanalyse, in der das Umfeld des Tatortes nach polizeilich bekannten Personen und Neonazis untersucht wurde. Dann 2008, als speziell das Umfeld von Temme und Gärtner eingehend im Blickfeld stand. Und in den erneuten Ermittlungen nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011, als klar war, dass die Morde von Neonazis begangen worden waren. Doch es lässt sich nicht feststellen, dass es in all den Ermittlungen im Fall Yozgat eine „Spur K.“ gegeben hat. Weder in den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen noch im Münchner NSU-Prozess fiel jemals sein Name.
Der Verfassungsschutz-Mitarbeiter am Tatort
Halit Yozgat war das letzte Opfer der rassistischen Mordserie des NSU. Zwar ermordete der NSU noch im Jahr 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter, doch dies geschah nicht im Rahmen der sogenannten „Ceska-Morde“.
Halit Yozgat befand sich im Eingangsbereich seines Internetcafés als ziemlich genau um 17 Uhr die Mörder seinen Laden betraten. Vermutlich gingen sie wortlos auf ihn zu und richteten ihn mit zwei Kopfschüssen regelrecht hin. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich mehrere Personen im Hinterraum des Internetcafés auf, der vom Eingangsbereich nicht einsichtig ist. Einer von ihnen war Andreas Temme. Nach den Schüssen verließ er fluchtartig den Ort, er kümmerte sich nicht um den sterbenden Halit Yozgat, er verständigte nicht die Polizei oder den Rettungsdienst und er meldete sich in den folgenden Tagen nicht als Zeuge, obgleich die Polizei öffentlich nach ihm suchte. Bis heute erzählt Temme, dass er nichts von dem Mord mitbekommen habe. Als er etwas Kleingeld für die Internetnutzung auf den Tisch im Eingangsbereich legte, will er weder das Blut auf dem Tisch bemerkt haben noch Halit Yozgat, der hinter dem Tisch lag. Auch die Schüsse will Temme im Gegensatz zu den anderen Zeugen nicht gehört haben – die Polizei hält dies für praktisch unmöglich. Auch will er nicht mitbekommen haben, dass nach ihm als Zeugen gesucht wurde – was faktisch widerlegt ist. Temme log eins ums andere Mal und gab stets nur zu, was gar nicht mehr zu leugnen war. Dennoch kam er mit seinen Geschichten durch, denn er wird vom Verfassungsschutz, dem hessischen Innenministerium bis hin zum hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier gedeckt.
Temme war Stammgast in dem Internetcafé gewesen. Ayşe und İsmail Yozgat, die Eltern von Halit Yozgat, die dort auch arbeiteten, sagten: „Wir alle kannten Temme“ und sie konnten sich an manche Details seiner Besuche erinnern. Die Ermittlungen ergaben, dass sich Temme mit seinen Spitzeln aus der Neonaziszene in verschiedenen Kasseler Internetcafés verabredet hatte. Es existiert ein Vermerk über eine Kommunikation, in der Temme „GP 389“ ein Treffen im Internetcafé vorschlägt. Dieser jedoch lehnt den Treffpunkt ab, weil der Besitzer Türke sei. „GP 389“ war Benjamin Gärtner. Wie viele und welche neonazistischen Spitzel Temme in welche Internetcafés bestellte, ist bis heute ungeklärt. Temme, sein Vorgesetzter und eine Kollegin im Kasseler Büro des hessischen Verfassungsschutzes führten um das Jahr 2006 mindestens fünf V-Personen in der Kasseler Neonaziszene. Von diesen ist bislang nur Benjamin Gärtner namentlich bekannt geworden.
M. K. sagt, er sei kein V-Mann gewesen und habe niemals Geld vom Staat für Informationen bekommen. Die Neonaziszene will er zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat bereits verlassen haben. Doch das hätte ihn für die Ermittlungen nicht weniger interessant gemacht. Auch (oder gerade) ein ehemaliger Neonazi in der Nachbarschaft in der Holländischen Straße hätte Informationen zu Neonazis in dem Stadtteil und in der Straße liefern können.
In dem Gespräch im Januar 2020 versichert K., dass er bisher mit keiner Behörde über den Fall Yozgat geredet habe. Auf die Frage, ob die Polizei diesbezüglich jemals auf ihn zugekommen sei, antwortet er mit Entschiedenheit: „Gar nicht. Noch gar nicht. […] Bei mir ist nichts gekommen, obwohl ich genau nebenan gewohnt habe.“
Verbindungen zu «Combat 18» und Stephan Ernst
Zurück nach Dransfeld am 25. August 2002: Aus den Notizen der Polizeikontrolle der Neonazis lässt sich ablesen, dass M. K. zusammen mit dem Kasseler Stanley Röske unterwegs war – einem Neonazi, der um das Jahr 2005 die «Nordhessen-Crew» der «Oidoxie Streetfighting Crew» (SFC) aufbaute, die sich als deutsche Vertreterin des internationalen Netzwerks «Combat 18» (C18) aufstellte. C18 gab und gibt sich ultramilitant, propagiert Terrorkonzepte des „Führerlosen Widerstands“ und nennt sich „Terrormachine“. Die SFC steht im Mittelpunkt der Recherchen zur Frage, was die militanten Neonaziszenen in Kassel und Dortmund Mitte der 2000er Jahre verband. Denn die beiden letzten Morde der „Ceska-Serie“ des NSU, am 4. April 2006 in Dortmund an Mehmet Kubaşık und am 6. April 2006 in Kassel an Halit Yozgat, stehen unverkennbar in zeitlichem Zusammenhang. Die SFC hatte ihr Zentrum in Dortmund und die «Nordhessen-Crew» im Raum Kassel war zu dieser Zeit ihr einziger Ableger – und ständig reisten die C18-Neonazis zwischen den beiden Städten hin und her. Heute ist Röske einer der Chefs der Gruppe «Combat 18 Deutschland», die im Januar 2020 verboten wurde.
Auch wurde 2002 in Dransfeld ein Auto mit Kennzeichen aus dem thüringischen Wartburgkreis (WAK) den Neonazis zugeordnet. Da neben den Kasselern nur Neonazis aus dem Raum Göttingen und zwei PKWs mit Göttinger Kennzeichen kontrolliert wurden, liegt nahe, dass die Kasseler Neonazis mit diesem WAK-Auto angereist waren. Halter des PKW war der damals 53-jährige Ferdinand R. Er ist der Vater von Anna R., die zu dieser Zeit mit Stephan Ernst liiert war und ein gemeinsames Kind mit ihm hatte. Später heirateten die beiden und lebten bis zur Verhaftung von Ernst im Juni 2019 zusammen. Der PKW von Ferdinand R. tauchte zwischen den Jahren 2000 und 2004 mehrfach auf neonazistischen Treffen auf, in allen Fällen wird angenommen, dass Stephan Ernst das Fahrzeug führte. Nach den Erkenntnissen der Ermittler:innen war Ernst auch am Abend am 2. Juni 2019 mit einem Auto, das auf seinen Schwiegervater Ferdinand R. angemeldet war, zum Haus von Walter Lübcke gefahren. So muss davon ausgegangen werden, dass 2002 in Dransfeld auf der „Suche“ nach Antifaschist:innen M. K., Stephan Ernst und Stanley Röske zusammen unterwegs waren. Engen Kontakt zu Ernst will M. K. nicht gehabt haben. Er erzählt, man habe sich von Demos gekannt und „ab und an mal“ sei Stephan Ernst auch „bei uns mal mit“ gewesen – offen bleibt, was M. K. dabei als „uns“ versteht.
Eine Neonazistin im Internetcafé von Halit Yozgat
Eine weitere unzureichend verfolgte Spur ist die Personalie Corryna Görtz. Die heute 51-jährige war Anfang der 1990er Jahre aus Thüringen in den Raum Kassel gezogen und ein Bindeglied der militanten Naziszenen in Thüringen und Nordhessen. Der ehemalige Neonazi Michael See, der lange Jahre mit ihr vertraut war, war sich in seiner Aussage vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss sicher, dass sie zu Böhnhardt, Mundlos und anderen Personen der Jenaer Szene Kontakt gehabt hatte. In einer „Bildmappe rechtsextremistischer Gewalttäter im Freistaat Thüringen“, die das Landeskriminalamt Thüringen 1997 als internes Fahndungsmittel erstellt hatte, ist Corryna Görtz neben Beate Zschäpe als einzige Frau aufgeführt.
Kurz vor Ende des hessischen Untersuchungsausschuss gelang es der Linkspartei, Corryna Görtz als Zeugin vorladen zu lassen. Nachdem sie einen Termin platzen ließ, erschien sie zur 57. öffentlichen Sitzung des Ausschusses am 15. September 2017. Auf die formale Frage eines CDU-Angeordneten, ob sie das Internetcafé von Halit Yozgat kenne, antwortete sie zur Überraschung aller mit „Ja“. Görtz erzählte, dass sie als Freigängerin in der JVA Baunatal (bei Kassel) Ende des Jahres 2005 mehrfach das Internetcafé besucht hatte, um dort Musik herunterzuladen oder Handykarten zu kaufen. Auf die Frage, warum sie sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht hatte, erzählte sie, sie habe den Tipp von einer Mitgefangenen erhalten und sei auch mit dieser bei Freigängen im Internetcafé gewesen. Die damalige Mitgefangene, die in der nachfolgenden Sitzung des Untersuchungsausschusses aussagte, war sich hingegen absolut sicher, niemals zusammen mit Görtz in dem Internetcafé gewesen zu sein oder ihr einen entsprechenden Tipp gegeben zu haben. Sie hatte jedoch eine Wohnung nur wenige Fußminuten vom Internetcafé entfernt, in der sie sich bei Freigängen mehrmals zusammen mit Görtz aufgehalten habe. Auch sagte Görtz, dass dieses Internetcafé für sie naheliegend gewesen sei, da es von der JVA Baunatal in nur 15 Minuten zu erreichen gewesen wäre. Tatsächlich lag es von der JVA Baunatal aus am anderen Ende der Stadt, 45 Fahrtminuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln entfernt.
Am 30. März 2006 war Görtz aus der Haft entlassen worden. Sie gab an, am Tag des Mordes an Halit Yozgat bei ihren Eltern in Thüringen gewesen zu sein. Andreas Temme will sie nicht kennen. Doch sie hatte im Oktober 2004 aus dem Gefängnis heraus an den hessischen Verfassungsschutz geschrieben, angeblich um Informationen über ein Aussteigerprogramm zu erhalten. Darin hatte sie sich wichtig gemacht: „Ich war lange Zeit in der deutschen wie in der österreichischen Neonaziszene aktiv. Zur Zeit stehe ich auch auf der Gefangenenliste der HNG und mein Lebensgefährte ist einer der Führungskader der Szene im Ruhrgebiet.“ Mit HNG ist die 2011 verbotene «Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige» gemeint. 2004 schrieb Görtz aus der Haft heraus einen Brief an den Vorstand der HNG, der in der HNG-Mitgliedszeitung „Nachrichten der HNG“ abgedruckt war.
Wie ihre Kontaktaufnahme zum VS weiter verlief, ist nicht bekannt. Es wäre naheliegend, dass sich daraufhin Temme, sein Vorgesetzter oder seine Kollegin, die zu dritt im Kasseler Büro des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz für „Rechtsextremismus“ zuständig waren, mit ihr in Verbindung setzten.
İsmail Yozgat erinnerte sich daran, das Temme nicht ausschließlich allein ins Internetcafé kam. Er sei auch einmal in Begleitung einer Frau gewesen. In einer Aussage gibt İsmail Yozgat an, dass die beiden einen sieben- bis achtjährigen Jungen dabei hatten. Corryna Görtz hat einen Sohn in dem beschriebenen Alter. Auch wenn İsmail Yozgats Beschreibung der Frau ansonsten nicht unbedingt auf Görtz schließen lässt, so hätte genau geprüft werden müssen, ob sie diese Frau gewesen war. Doch findet sich bei Görtz hierzu kein Ermittlungsvorgang. Im hessischen Untersuchungsausschuss wurden Temme und Görtz nicht dazu befragt. Denn İsmail Yozgat wurde erst in der letzten öffentlichen Sitzung des Ausschusses am 27. November 2017 als Zeuge gehört, wo er erneut von Temmes Begleiterin berichtete. Temme und Görtz waren zu diesem Zeitpunkt längst abgehakt und wurden nicht mehr vorgeladen. Dabei hatte İsmail Yozgat viel zu sagen und viele Fragen, die in dem Ausschuss behandelt hätten werden müssen. Dass man ihn als allerletzten Zeugen vorlud – zu einem Zeitpunkt, als die Anhörungen praktisch abgeschlossen waren – zeigt, dass es eher um eine symbolische Geste ging, als um das Wissen, das Yozgats zur Aufklärung hätten beitragen können.
Corryna Görtz ist der neonazistischen Szene bis heute verbunden. Als der Kasseler Neonazi Mike Sawallich, der sich in den vergangen Monaten als Freund von Stephan Ernst zu erkennen gab, am 23. Januar über Facebook fragte, wie er mit einer Zeugenvorladung des Bundeskriminalamts im Fall Lübcke umgehen solle, gab ihm Görtz den Tipp: „Nur mit Anwalt!!!! Ich weiss wovon ich rede…“. Aus einem weiteren Facebook-Post geht hervor, dass sich die beiden noch am selben Tag trafen. Zum Bild eines gemeinsamen Abendessens mit Mike Sawallich setzte Görtz den Hashtag „Wombat 18“, der in Sozialen Netzwerken als Solidaritätserklärung mit der am gleichen Tag verbotenen Gruppe «Combat 18» kursierte. Just an diesem Tag war Stanley Röske, einem Anführer von «Combat 18 Deutschland», der heute in Eisenach wohnt, die Verbotsverfügung ausgehändigt worden. Görtz und Röske kennen sich aus dem harten Kern der Naziszene in Kassel der 1990er, bereits 1995 waren sie zusammen zu einem Treffen der HNG gereist.
Am 2. Februar 2020 postete Sawallich ein Bild, das ihn zusammen mit Corryna Görtz zeigt. Sie lehnt sich an ihn, er legt den Arm um sie. Sawallich schreibt: „Einen schönen Sonntag verbracht mit Corryna Conny Görtz.“ Die Offenheit, mit der beide ihre Nähe zeigen, irritiert.
Corryna Görtz im militanten Kern der Szene
Corryna Görtz bewegt sich seit mindestens Anfang der 1990er Jahre im militanten Kern der Neonaziszene. Bereits 1992 wurde sie in Detmold (Ostwestfalen) als Bewohnerin des Zentrums der 1992 verbotenen neonazistischen Kaderorganisation «Nationalistische Front» (NF) festgestellt. Sie arbeitete im NF-eigenen Klartext-Verlag. 1994 unterzeichnetet sie namentlich als „Sekretariat“ von Thorsten Heise, damals niedersächsischer Landesvorsitzender der 1995 verbotenen «Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei» (FAP). Sie gab in ihren Aussagen an, oft privat bei Heise gewesen zu sein. Auch ihr Lebensgefährte Dirk Winkel, mit dem sie nach eigenen Angaben von 1992 bis 2002 liiert war, war ein Funktionär der FAP und Vertrauter von Heise. Im Februar 1995 wurde ihre Wohnung im westfälischen Münster durchsucht. Grund war ein Ermittlungsverfahren gegen Görtz und andere wegen des Verdachts der Weiterführung der 1994 verbotenen «Wiking-Jugend». Nach 1995 bewegte sie sich im Kreis der Kasseler Kameradschaft «Gau Kurhessen», die von Dirk Winkel angeführt wurde. Ein Mitglied dieser Kameradschaft soll Markus Hartmann gewesen sein.
Auch galten Winkel und Görtz der Polizei um das Jahr 2000 als Kontaktpersonen der Kasseler Szene zu Neonazis in Schleswig-Holstein aus dem Netzwerk von «Blood & Honour» und «Combat 18». Zwischen 2000 und 2003 wohnte Görtz im österreichischen Innkreis, nahe der Grenze zu Bayern. Zusammen mit Dirk Winkel führte sie dort ein Militaria-Geschäft. Da sie im Oktober 2000 an einem Treffen von «Blood & Honour» (B&H) teilgenommen hatte, wurde sie von der österreichischen Polizei der «Blood & Honour-Bewegung» zugerechnet.
Im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss berichtete Oliver P., ein ehemals führender und mittlerweile ausgestiegener Kasseler Neonazi, Görtz habe in der Szene bzw. in seinem Freundeskreis über die Notwendigkeit gesprochen, Sprengstoff zu beschaffen und Bomben zu bauen. P. sagte wörtlich: „Von der Corryna Görtz habe ich die Frage vernommen, da hat sie uns gesagt: ‚Wie, ihr kocht nicht?‘ Sie hat das wohl so als normal irgendwie dargestellt, sich da irgendwelche Chemikalien zusammenzurühren, und da hat sie eben gesagt: ‚Wie, ihr kocht nicht?‘ Da haben wir gesagt: ‚Was sollen wir kochen?‘ Da habe ich mich schon sehr gewundert.“ Kochen war und ist die Chiffre für Sprengstoff oder Bomben herstellen. In einer anderen Quelle heißt es, Görtz habe ein kleines Heftchen mit Bombenbau-Anleitungen in Umlauf gebracht, das „Giftpilz“ hieß. Das sei sehr konspirativ weitergeben worden.
Noch brisanter ist die Liaison, die Corryna Görtz offenbar noch im Jahr 2006 mit dem Dortmunder Neonazi Siegfried Borchardt, bekannt als „SS-Siggi“, pflegte. Während ihrer Haftzeit in Kaufungen und Baunatal von 2003 bis 2006 bekam Görtz laut eines Behördenberichtes Besuch von einer Person, die mit dem Namen „Borchert“ vermerkt wurde und handschriftlich der Name „Siegfried Borchardt“ hinzugefügt wurde. Im Brief an den Verfassungsschutz im Oktober 2004 schrieb sie: „mein Lebensgefährte ist einer der Führungskader der Szene im Ruhrgebiet“ und kann damit nur Borchardt gemeint haben.
In der Beziehung von Görtz und Borchardt zeigt sich eine Verbindung von Kassel nach Dortmund, die alarmieren muss. Denn die beiden letzten Morde der „Ceska-Serie“ des NSU, am 4. April 2006 in Dortmund an Mehmet Kubaşık und am 6. April 2006 in Kassel an Halit Yozgat, stehen in zeitlichem Zusammenhang. Zudem: Der Mord an Mehmet Kubaşık geschah in der Dortmunder Nordstadt wenige hundert Meter vom Wohnort von Borchardt entfernt. Und in der Zwickauer Wohnung des NSU-Kerntrios, die Beate Zschäpe vor ihrer Flucht in Brand gesetzt hatte, fanden sich Reste einer Schachtel jener Munition, die in der Mordserie des NSU verwandt worden war. Handschriftlich war auf die Schachtel „Siggi“ geschrieben worden. Aus dem bekannt gewordenen Personenkreis um das Kerntrio des NSU ist kein „Siggi“ bekannt. Es ist unklar, auf wen sich diese Notiz bezieht. Der Journalist Tobias Großekemper, der diese Geschichte recherchierte, schreibt: „Ob Borchardt mit dieser Schachtel etwas zu tun hatte, konnte nicht geklärt werden. Er wurde offiziell nie vernommen.“
Görtz und Borchardt im Geheimdienst-Sumpf
Auch das ist kaum zu fassen: Eine Kasseler Neonazistin aus dem militanten Kern, die zum Zeitpunkt der NSU-Morde in Dortmund und Kassel eine enge Beziehung zu einem führenden Dortmunder Neonazi unterhielt, wird elf Jahre nach den Morden von einem Parlamentarier gefragt, ob sie das Internetcafé von Halit Yozgat gekannt habe und antwortet freimütig mit „Ja“. Bis dato lagen den Beteiligten aller Untersuchungsausschüsse, den Nebenklage-Anwält:innen und auch dem Münchner Oberlandesgericht, das den NSU-Prozess führte, keine Aussagen von Görtz vor, in denen sie dies einräumte. Es gilt zu klären, ob die Ermittler:innen Corryna Görtz diese Frage niemals stellten oder ob Aussagen von ihr den Parlamentarier:innen, der Justiz und auch den Anwält:innen der Familien Yozgat und Kubaşık vorenthalten wurden.
Michael See sagte vor dem hessischen NSU-Untersuchungsausschuss: „Corryna Görtz war im Prinzip wie ich überall mit drin. Es würde mich auch nicht wundern, wenn irgendwann mal rauskommen würde, dass Corryna Görtz auch für irgendeinen Geheimdienst gearbeitet hat. Corryna Görtz war bei der Nationalistischen Front […]. Sie war bei der FAP. Sie hatte im Prinzip genau wie ich auch Kontakte zu allen möglichen Führungspersonen in der Neonaziszene.“ In diesem Zusammenhang ist eine Geschichte aus dem Jahr 1997 erwähnenswert. Zu dieser Zeit führten die Behörden ein Ermittlungsverfahren gegen den niedersächsischen «Blood & Honour»-Aktivisten Jens Hessler. Er wurde verdächtigt, über seinen Nibelungen-Versand illegale CDs zu produzieren und zu verbreiten, unter anderem die erste CD der «Zillertaler Türkenjäger», die breite Resonanz in der Neonaziszene und in den Medien fand. Die Verschickung lief chiffriert. So bestellten KundInnen bei Hessler CDs „der Lustigen“ und bekamen diese ohne Absender zugesandt. Schließlich bekam Hessler zwei CDs der «Zillertaler Türkenjäger» mit dem Hinweis zurückgeschickt, diese seien kaputt. Die Person wollte als Ersatz zwei CDs der Band «Macht & Ehre», ebenfalls ein illegales Produkt. Die Absenderin war Corryna Görtz. Ihre Sendung diente der Polizei und Staatsanwaltschaft als ein Indiz, dass Hessler hinter der Verschickung der «Zillertaler Türkenjäger» steckte. Das lässt sich aus entsprechenden Prozess-Unterlagen herauslesen. Soviel Sorglosigkeit verwundert bei einer Person, die die politische Schule der «Wiking-Jugend», der NF und der FAP durchlaufen hat. Es wirkt so, als sei diese Rücksendung „bestellt“ gewesen, was meint: Sie sollte dazu dienen, belastendes Material gegen Hessler zu erzeugen.
Die Parlamentarier:innen des hessischen NSU-Untersuchungsausschuss verfügten über Hinweise, dass Corryna Görtz in ihrer Zeit in Österreich 2000 bis 2003 für einen österreichischen Geheimdienst gespitzelt hatte. Bei diesbezüglichen Fragen berief sich Görtz auf ein Aussageverweigerungsrecht und ein Zeugnisverweigerungsrecht und als ihr dies nicht zugestanden wurde, wich sie aus und lavierte herum. Viele Beobachter:innen sahen durch ihre Reaktion den Verdacht der Geheimdienst-Tätigkeit erhärtet. Dass im Fall Görtz vertuscht wurde, wird allein daran deutlich, dass der Verfassungsschutz 2009 ihre Personalakte vernichtete. Iris Pilling, Abteilungsleiterin im hessischen VS verteidigte dies gegenüber dem Ausschuss und erklärte dazu: „Eine Aktenvernichtung erfolgt dann, wenn eine Prüfung ergeben hat, dass eine mehrjährige Inaktivität gegeben ist oder dass eine Person tatsächlich fälschlicherweise dem Extremismus zugeordnet worden ist.“
Tatsächlich findet sich in den Akten, die dem Untersuchungsausschuss vorlagen, der Hinweis, dass Görtz im Jahr 2009 bei einem Neonazikonzert der Polizei als Ansprechpartnerin diente. Auch lief im selbem Jahr ein Ermittlungsverfahren gegen sie wegen Bedrohung und Sachbeschädigung, weil sie zusammen mit einem anderen Neonazi in Thüringen einen Szene-Aussteiger drangsaliert haben soll.
Corryna Görtz stellte sich im Untersuchungsausschuss als eine Person dar, die nur als „Freundin von“ in der Szene war und dort wenig mitgekriegt und zu sagen gehabt habe – was im Widerspruch zu ihrer Wichtigmacherei im Schreiben an den Verfassungsschutz im Jahr 2004 steht. Genau dieses Bild von ihr zeichnet plump und durchschaubar der Verfassungsschutz. Die Linkspartei zitiert in ihrem Sondervotum zum Abschlussbericht des hessischen Untersuchungsausschuss vom 17. Juli 2018 aus einem Kurzvermerk des hessischen VS aus dem Jahr 2005: „Seit 2000 liegen keine Erkenntnisse über extremistische Aktivitäten der Görtz mehr vor. Görtz scheint vor allem durch materielle (Versandhandel) und private (Vater ihrer Kinder, sonstige Partner) Motive in der rechtsextremistischen Szene verwurzelt gewesen zu sein. Ein politischer Hintergrund stand vermutlich nie im Vordergrund. Politische Aktivitäten gingen in der Regel von ihren Partnern […] aus.“ Die Linke kommentiert dies treffend: „Dieser Kurzvermerk ist irritierend. Das LfV unterstellt einer Rechtsextremistin, die durch die Kaderschule der NF […] gegangen ist, und Broschüren zum Bombenbau verfasst hat, dass ein politischer Hintergrund bei ihr nie im Vordergrund gestanden habe, sie quasi ‚Anhängsel‘ von männlichen Aktivisten gewesen sei. Diese Unterschätzung von weiblichen Neonazis ist zwar ein häufig anzutreffendes Phänomen, in dieser Deutlichkeit, formuliert durch eine Sicherheitsbehörde, aber völlig abstrus.“
Es muss geklärt werden, was der Geheimdienst bezüglich Görtz zu verbergen hat bzw. in welchen Zeiträumen ihres bewegten Szenelebens sie für welche Behörde gearbeitet hatte. Im Sommer 2018 wurde bekannt, dass auch Siegfried Borchardt seit vielen Jahren mit dem VS kooperiert. Die Ruhrnachrichten berufen sich dabei auf die Aussage eines ranghohen Verfassungsschützers, der am Rande des NRW-NSU-Untersuchungsausschusses bemerkt hatte, dass Borchardt „für ein paar Flaschen Schnaps durchaus für Gespräche gut gewesen sei“.
Der „Stadtreiniger“, der Halit Yozgat kannte
Die Frage steht im Raum, ob Stephan Ernst oder eine Person aus seinem engeren Kreis auch beim Mord an Halit Yozgat eine Rolle gespielt haben könnte. Natürlich gab und gibt es im Raum Kassel eine Schnittmenge von Personen, die in all den Jahren mit Stephan Ernst politischen und freundschaftlichen Kontakt pflegten und zugleich Personen im UnterstützerInnen-Kreis des NSU kannten oder mit NSU-Tatorten in Verbindung standen. Die Neonazis im Kern der Kasseler Szene hatten alle mehr oder weniger miteinander zu tun und wurden oft an den selben Orten und zu den selben Anlässen festgestellt. Der Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas Temme war sicherlich mit den meisten der Kasseler Neonazis – so auch mit Stephan Ernst – in irgendeiner Weise „dienstlich befasst“ gewesen. Der Anwalt von Ernst erklärte im Oktober gegenüber Spiegel Online, es habe keinen direkten Kontakt zwischen Ernst und Temme gegeben, doch sei „in Gesprächen zwischen Ernst und dem rechtsextremen V-Mann [Benjamin Gärtner, d.A.] auch der Name von Verfassungsschützer Temme gefallen.“
Aus all diesen Verbindungen und Verflechtungen sticht der Fall des Kasseler Neonazis Markus Hartmann heraus. Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) wirft ihm aktuell Beihilfe zum Mord am nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor. Der CDU-Politiker Lübcke war am 2. Juni 2019 vor seinem Haus in Wolfhagen bei Kassel erschossen worden. Dringend tatverdächtig ist Stephan Ernst, der in einer Aussage am 10. Januar, wenig glaubhaft, Hartmann beschuldigte, den tödlichen Schuss auf Lübcke ausgeführt zu haben. Hartmann und Ernst waren enge Freunde. Zusammen besuchten sie bis ins Jahr 2018 rechte Aufmärsche und sie führten – so die GBA – Gespräche, die ins „Radikale abgedriftet“ seien. Beide hatten die Person Walter Lübcke als Feind aufgebaut. Auch hatte nach Erkenntnissen der GBA Hartmann Stephan Ernst mit Schusswaffen und dem Schießen vertraut gemacht und ihm den Kontakt zu einem Waffenhändler vermittelt, der die Mordwaffe im Fall Lübcke beschafft haben soll. Hartmanns Lebensgefährtin charakterisiert ihn als den „Denker“ und Stephan Ernst als den „Macher“ in dem Zweier-Verhältnis.
Ein „Waffenfetischist“
Neun Wochen nach dem Mord an Halit Yozgat, am 12. Juni 2006, war Markus Hartmann auf das Kasseler Polizeipräsidium vorgeladen, um zu diesem Fall befragt zu werden. Die Polizei hatte festgestellt, dass Hartmann auffallend häufig eine Internet-Seite angeklickt hatte, die über den Mordfall und die Ermittlungen berichtete. Die Polizei wollte von ihm wissen, woher sein Interesse am Fall Yozgat rührte. Es war eine Routinebefragung, die nur wenige Minuten dauerte. In knappen Sätzen erzählte Hartmann, dass ein Nachbar von ihm, mit dem er bekannt sei, ein Freund von Halit Yozgat gewesen sei und dass er über diesen Halit Yozgat auch einmal kurz kennengelernt habe. Dieser Nachbar habe ihm von dem Mord erzählt und da er Halit Yozgat ja flüchtig kannte, habe ihn der Fall interessiert. Dem Beamten, der die Befragung durchführte, reichte das aus, nach vier Fragen und Antworten durfte Markus Hartmann gehen. Der Beamte notierte auf dem Spurenblatt: „Nicht weiter relevant, als abgeschlossen anzusehen.“
In keiner Frage an Hartmann findet sich eine Andeutung, die auf seine neonazistischen Aktivitäten und Gesinnung zielte. Dabei kann dem Polizisten nicht entgangen sein, dass sein Gesprächspartner seit den 1990er Jahren zum Kern der Kasseler Neonaziszene gehörte. Anfang der 2000er soll er der Kameradschaft Gau Kurhessen angehört haben. Just im Jahr 2006 war Hartmann wegen Volksverhetzung angezeigt worden, da er in einer Kneipe den Hitlergruß gezeigt und „Sieg Heil“ gerufen hatte. Und im Jahr 2007 deckte ein Journalist auf, dass Hartmann unter dem Pseudonym „Stadtreiniger“ seit Jahren über Internet-Foren rassistische Propaganda streute. Im Forum des Freien Widerstands im Jahr 2005, in dem knapp 900 Neonazis aus Deutschland und den Nachbarländern in einem vermeintlich geschützten Raum kommunizierten, bezeichnete er sich selbst als „Waffenfetischisten“. Er gab vor, Schusswaffen zu besitzen und Schießübungen durchzuführen. Mit anderen Neonazis tauschte er sich über Untergrundkonzepte, Sprengstoffe, verschiedene Waffen und Kriegstechniken aus, seine email-Anschrift war „kalashnikov-76“ (Hartmann ist 1976 geboren). Einem Kameraden aus Hildesheim, der ihm entsprechende Schriften empfahl, schrieb er „eigentlich brauche ich nix mehr…………….habe schon alles was das herz begehrt“. Zugleich mahnte „Stadtreiniger“ seine Kommunikationspartner zu konspirativen Handeln: „allerdings halte ich mich auch von demos fern weil ich keinen bock auf registrierung habe (alles schon hinter mir).“
Selbst als nach der Selbstenttarnung des NSU im Jahr 2011 der Fall Yozgat nochmals aufgerollt wurde, wurde die Spur Markus Hartmann offenbar nicht mehr aufgegriffen. Warum?
Misstrauen schürt die Aussage von Cornelia Zacharias von der Generalbundesanwaltschaft (GBA) in einer Sitzung des „Ausschusses für Inneres und Heimat“ am 15. Januar 2020, wo über den aktuellen Stand der Ermittlungen im Mordfall Walter Lübcke berichtet wurde. Auf Fragen, ob Markus Hartmann Informant einer Behörde gewesen sei, antwortete sie ausweichend. Auf Drängen der Abgeordneten sagte sie, sie wisse es zwar, sei aber nicht befugt, darüber Auskunft zu geben. Zuvor jedoch hatte ein Vertreter der GBA auf die Frage, ob Stephan Ernst Spitzel gewesen sei, ohne Umschweife gesagt, dass man dies seitens seiner Behörde ausschließen könne. Dieses Statement blieb bei Markus Hartmann aus.
Parallelen zwischen den Morden an Halit Yozgat und Walter Lübcke
Die Morde an Halit Yozgat und Walter Lübcke ähneln sich sehr. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Ernst aus der Dunkelheit auf Lübcke zuschlich, der kurz vor Mitternacht auf der Veranda seines Hauses eine Zigarette rauchte. Ohne ihn anzusprechen soll ihn Ernst mit einem Schuss aus ein bis zwei Meter Entfernung ermordet haben. Der NSU-Mord in Kassel gleicht ebenso einer Hinrichtung, auch hier geht man davon aus, dass die Mörder wortlos auf den arglosen Halit Yozgat zugegangen waren und ihm in den Kopf schossen. Zum Mord an Lübcke wie auch zu den „Ceska-Morden“ bekannte sich (bis zur Selbstenttarnung des NSU 2011) niemand. Zudem stellt sich im Fall Lübcke die Frage, warum der oder die Mörder die Mordwaffe aufhoben. Die Polizei fand sie in einem Depot, das Stephan Ernst in einem ersten, später widerrufenen, Geständnis genannt hatte. Die Frage steht im Raum, ob geplant oder angedacht gewesen war, mit dieser Waffe weitere Morde durchzuführen.
Auf dem Computer von Stephan Ernst wurde eine Liste mit potentiellen Zielen gefunden, die zwischen 2001 und 2007 angelegt worden war. Darin befinden sich Daten von über 60 Objekten und Personen im Raum Kassel. Dies zeigt, dass militante Kasseler Neonazis bereits in den frühen 2000er Jahren „Feindeslisten“ angelegt hatten. Somit gerät insbesondere ein Mordversuch an einer Person ins Blickfeld, dessen Namen und Anschrift sich auf dieser Liste befindet.
Die antifaschistische Zeitung Lotta berichtet darüber im Sommer 2019: „Am 20. Februar 2003 schossen Unbekannte auf das frühmorgens erleuchte Fenster eines damals 48-jährigen Lehrers, der sich über Jahre öffentlich gegen Rechts engagiert hatte. Die Kugel aus einer hochkalibrigen Waffe verfehlte nur knapp seinen Kopf. Er habe den Lufthauch gespürt, sagte der Betroffene der Hessisch/Niedersächsischen Allgemeinen. Es ist für diesen Anschlag kein anderes Motiv denkbar als ein neonazistisches. TäterInnen wurden nie gefasst, es ist nicht einmal ein angemessener polizeilicher Ermittlungsvorgang festzustellen.“
Die Staatsanwaltschaft prüft derzeit, ob Stephan Ernst für ein weiteres Verbrechen in Frage kommt. Ahmed I., der in einer Unterkunft für Geflüchtete in Lohfelden bei Kassel lebte, wurde am Abend des 6. Januar 2016 nach Verlassen der Unterkunft von einem vorbeifahrenden Radfahrer ohne Vorwarnung ein Messer in den Rücken gestoßen. Ahmed I. wurde lebensgefährlich verletzt und behielt schwere Schäden. Der Täter wurde auch hier nicht ermittelt. Die Lotta schreibt in Hinblick auf den Mord an Walter Lübcke: „Personen wie Stephan Ernst dürften sich jedoch durch die ausbleibenden Ermittlungserfolge in ihrem Tatentschluss bestärkt gefühlt haben.“
Nichts zum Besseren geändert
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Ermittlungen zum Mord an Walter Lübcke sehr genau und kritisch betrachtet werden müssen. Sie sind schon jetzt – wie der NSU-Mord an Halit Yozgat – von Lügen und Vertuschungen begleitet. Es ist das altbekannte Muster: Der hessische Verfassungsschutz hält Informationen zurück und der Innenminister deckt „seinen“ Geheimdienst.
Man wird darauf drängen müssen, dass bestimmte Akten und Berichte freigegeben werden, die bisher unter Verschluss gehalten werden und Antworten auf diese Fragen geben könnten. So zum Beispiel ein Geheimbericht zum NSU, den der hessische Verfassungsschutz 2013 im Auftrag des hessischen Innenministers anfertigte. Die Landesregierung von Volker Bouffier hatte diesen im Sommer 2017 für 120 Jahre sperren lassen und damit selbst die düpiert, die zu dieser Zeit noch an dem Glauben festhielten, dass sich die Landesregierung um die Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat bemühen würde.
Nach anhaltender Kritik und nach der Klage der Journalisten Dirk Laabs und Stefan Aust verkürzte die Landesregierung die Sperrfrist auf 30 Jahre, was gleichwohl indiskutabel ist. Laabs und Aust, Autoren des Buches „Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU“, hatten den hessischen Verfassungsschutz darauf verklagt, Auskünfte aus diesen und weiteren Berichten zu erhalten und waren damit im August und November 2019 vor den Gerichten erfolgreich. Der Verfassungsschutz musste daraufhin mitteilen, dass in der Akte von 2013 Stephan Ernst elfmal, Gärtner sechsmal und Temme zweimal erwähnt sind.
Im Januar 2020 wurde bekannt, dass selbst die Generalbundesanwaltschaft (GBA), die im Fall Lübcke ermittelt, erst im Oktober 2019 diese Akte und einen weiteren als geheim eingestuften VS-Bericht erhalten hatte. Nach Auskunft der GBA waren die Dokumente „in unterschiedlichem Umfang“ geschwärzt. Dabei gehe es „soweit ersichtlich“ um Angaben, „die Rückschlüsse auf die Identität von Quellen, Mitarbeitern und die Arbeitsweise der Nachrichtendienste zulassen“.
Die GBA teilte weiter mit, dass in diesen Dokumenten Erkenntnisse zu Ernst und Hartmann enthalten seien, „die dem Generalbundesanwalt vorher nicht bekannt waren“. Noch kurz zuvor hatte Innenminister Peter Beuth im Innenausschuss des Hessischen Landtags erklärt, Markus H. werde „weder in dem Bericht von 2013 noch in dem Bericht von 2014 genannt“.
Das Gebaren des Verfassungsschutz und des Innenministers zeigt in deprimierender Deutlichkeit, dass sich nach all den VS-Skandalen infolge des Auffliegens des NSU in diesen Behörden nichts zum Besseren geändert hat.
Von Integrität und Glaubwürdigkeit
Die Reaktion der herrschenden Politik nach dem Auffliegen des NSU, dem Mord an Walter Lübcke wie auch aktuell den rassistischen Morden von Hanau war stets, die Stärkung der Polizei und der Geheimdienste anzukündigen. Was meint: diesen mehr Mittel und mehr Befugnisse zur Verfügung zu stellen. So wurde unter anderem nach dem NSU-Desaster das V-Personen-System der Geheimdienste rechtlich abgesichert.
Dabei ist Kassel ein prägnantes Beispiel dafür, welche Gefahr für die Gesellschaft von diesem System ausgeht. Der harte Kern der Kasseler Neonaziszene dürfte selbst zu Hochzeiten kaum mehr als 50 Personen stark gewesen sein. In ihr hatte alleine der hessische Verfassungsschutz mindestens fünf Spitzel platziert. Wie viele InformantInnen andere Dienste und Dienststellen – andere Verfassungsschutz-Ämter, der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst und die verschiedenen Polizeibehörden – in der Szene führten, ist nicht bekannt.
Doch konnte weder der Mord an Halit Yozgat aufgeklärt werden, noch der Mordversuch an Ahmed I., noch die Schüsse auf den linken Lehrer. Selbst beim Mord an Walter Lübcke, waren es keine Recherchen in oder gar Hinweise aus der Szene gewesen, die zum mutmaßlichen Täter geführt hatten, sondern winzige Hautpartikel auf der Kleidung von Walter Lübcke, die nach einem DNA-Abgleich Stephan Ernst zugeordnet werden konnten.
Die Zeitschrift Lotta analysiert in einem aktuellen Artikel das Verhältnis zwischen den Verfassungsschützer:innen und „ihren“ Spitzeln: „Die Geheimdienstler:innen bauen eine auf Langfristigkeit angelegte Beziehung zu den V-Leuten auf und sind daran interessiert, ihre „Quellen“ möglichst lang und eng an sich zu binden und sie möglichst hoch in den jeweiligen Organisationen anzusiedeln. Die V-Leute-Praxis führt somit zu einer strukturellen Nähe zwischen Neonazi-Szene und Behörden. Das Wissen, das die Behörden über die Szene haben, ist also vor allem von den Erzählungen derselben geprägt. Rassistische Taten werden dabei entpolitisiert. Diese Nähe geht soweit, dass V-Leute vor Polizeirazzien gewarnt wurden. Die behördliche Strategie ist dabei von der Idee geleitet, die Neonazi-Szene kontrollieren zu können. Da rechter Terror aber nicht auf staatliche Strukturen ausgerichtet ist, fühlt sich der Staat auch nicht durch die Taten betroffen. Es gibt also keinen Anlass für die Geheimdienste, Informationen preiszugeben oder ‚Quellen‘ zu gefährden, um einen Mord aufzuklären.“
Der Fall Halit Yozgat muss neu aufgerollt werden. Alle offenen Fragen zu M. K., Hartmann und Görtz müssen beantwortet werden. Um schließlich zu den Fragen zu kommen, die man so lange stellen wird, bis auch sie beantwortet sind: Was wusste Andreas Temme, was wussten seine Kolleg:innen vom Verfassungsschutz und Mitarbeiter:innen anderer Behörden über den Mord an Halit Yozgat, über die gesamte Mordserie und über den NSU? Doch wer soll den Fall Halit Yozgat und die anderen NSU-Verbrechen aufklären? Es steht mehr denn je in Zweifel, dass es irgendeine Stelle, irgendeine Behörde gibt, die die Kompetenz, Integrität und Glaubwürdigkeit besitzt, die Ermittlungen ohne weitere Versäumnisse und Vertuschungen zu führen.